IV Jesaja 6 und die Sprache des Johannes

Über die Herkunft der Sondersprache des Johannes wird bis heute viel gerätselt. Wenn sich auch die These vom gnostischen Einfluss auf die Sprache des Evangelisten bis heute hält30, ist sie doch durch die immer stärker werdende Erkenntnis vom großen Einfluss des AT auf Johannes immer schwächer geworden. Ich möchte die Schwäche der These durch diesen Artikel noch weiter offenlegen, denn gerade der „Gesandte“ ist oft aus der Gnosis abgeleitet worden.

In dem vorhergehenden Abschnitt, „wie Johannes wahrscheinlich Jes 6 gelesen hat“, habe ich alttestamentliche Kernworte oder Primärworte durch Kursivschrift hervorgehoben.

a) Unter „Kernworten/Primärworten“ verstehe ich Worte, die Johannes für seine Sprechweise evtl. oder direkt aus Jes 6 übernommen hat. Sie tauchen z.T. auch in anderen von Johannes benutzten Texten des AT auf. Unter „Primärworten“ verstehe ich zentrale Worte der johanneischen Sprache, deren Herkunft mit (großer) Sicherheit auf eine bestimmte alttestamentliche Stelle zurückgeführt werden kann - also z.B. „senden“ aus Jes 631. Deswegen muss man von Fall zu Fall untersuchen, auf welchem spezifischen alttestamentlichen Hintergrund Johannes ein bestimmtes Wort (vgl. z.B. „König“ = Kernwort aus Jes 6,5 und Primärwort aus Ps 45 - vgl Joh 18,36f) gesehen hat. Manchmal kann man keine Entscheidung über die Herkunft herbeiführen, weil ein bestimmtes Wort gleichwertig aus verschiedenen alttestamentlichen Texten abgeleitet werden kann (vgl. z.B. „hören“ als zentrales Wort in Jes 6,9f und Ps 95,7).

b) Zu den Kernworten treten dann „abgeleitete Worte“, d.h. johanneische Worte, die in Jes 6 immanent enthalten sind, auch wenn sie dem Wortlaut nach nicht vorkommen, z.B. „Gericht/richten“ - vgl. z.B. Joh 10,39.

c) „Kernworte/Primärworte“ und „abgeleitete Worte“ werden dann von Johannes in „spezifischen Situationen“ angewendet, z.B. in der Situation einer Festrede im Tempel (vgl. Joh 7,14-18. 25-29), einer Gerichtsrede (vgl. Joh 12,27-50) oder eines Gebetes (Joh 17).32

d) Mir ist klar geworden, dass Jes 6 für die Theologie und Sprache des Johannes ein Text allerersten Ranges ist: für die Darstellung Jesu als des Präexistenten, des Gesandten, der im Auftrage Gottes, und nicht aus sich selbst, redet und handelt33, der Menschen heilt und sie zur Erkenntnis der Herrlichkeit des Gesandten führt, dass sie auf diese Weise Gottes Ehre suchen. Die Ehre Gottes suchen - nicht die eigene - das ist johanneisches Zentralanliegen34. Menschen ziehen sich durch die Ablehnung des Gesandten im Suchen ihrer eigenen Ehre das Gericht zu. Der aus dem Bereich der himmlischen Herrlichkeit kommende und redende Gesandte (Jes 6 und LXX Ps 39), totale Zustimmung oder Ablehnung erfahrend, bietet Johannes die Möglichkeit, andere christologische Bezeichnungen mit ihrem je eigenen Schwerpunkt anzugliedern wie bei einem Kristallisationskern.

e) Man darf jedoch über die herausragende Bedeutung von Jes 6 für die johanneische Darstellung Jesu nicht reden, ohne dass gleichzeitig von LXX Ps 39 geredet wird35 (s. II,f). Jes 6 und LXX Ps 39 sind die zwei Seiten derselben Medaille: Betont Jesus immer wieder auf dem Hintergrund von Jes 6,8f, dass er nichts von sich selbst redet und tut, sondern darin total vom Vater bestimmt wird, der ihn gesandt hat und - so die eine Seite der Medaille - gesagt hatte „Geh hin und rede“, so steht auf der anderen Seite der Medaille LXX Ps 39,7ff: „Opfer und Gaben hast du nicht gewollt; einen Leib aber hast du mir bereitet. Brandopfer und Sündopfer gefallen dir nicht. Da sprach ich: Siehe, ich komme - im Buch steht von mir geschrieben -, dass ich tue, Gott, deinen Willen...“. Während Jesus an vielen Stellen im Johannesevangelium betont, dass er (gemäß Jes 6,8) nichts von sich selbst redet oder tut, setzt er gemäß LXX Ps 39,7ff/Joh 10,17f vgl Hebr 10,7ff von sich selbst sein Leben ein. Deswegen wird bei Johannes nicht nur von Präexistenz36 und Gesandtsein gesprochen, sondern vom Einsatz von (gr.)sarx, soma und psychae Zu Gottes Verherrlichen des Sohnes, der sich hat senden lassen, gehört dann die Rückkehr zum Vater und die Gabe des ewigen Lebens für die, die geglaubt haben, dass Gott Jesus gesandt hat. Wer von Jes 6 in johanneischem Verständnis redet, muss gleichzeitig von LXX Ps 39 reden und wer von diesem Psalm in johanneischem Verständnis spricht, muss gleichzeitig Jes 6 in den Blick bekommen, um die Grundlage der johanneischen Sondersprache zu erkennen, die in meditativer Auslegung alttestamentlicher Texte sich entwickelt - und nicht in der Gnosis wurzelt! Geistgewirkte Sprache des Johannes ist an das AT und die Tradition über Jesus gebundene Sprache.