Von der Schwierigkeit, Ps 95 als sehr wichtigen Hintergrund für johanneische Sprechweise und Theologie zu entdecken

Im Hebräerbrief finden wir sehr klare Zitate aus Psalm 95 - nicht so bei Johannes, obwohl dieser Psalm den Hintergrund für viele johanneische Aussagen bildet, wie ich mit diesem Artikel zu erweisen versuche.
Wenn Johannes traditionelles Material aus dem „vierten Synoptiker“6·verwendet, verwendet er zusammen mit diesem Material auch direkte Zitate. Aber wenn er in seine eigene Sprechweise überwechselt, benutzt er das AT oft in einer Weise, dass es nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist, weil eine Einleitungsformel für ein Zitat fehlt und der alttestamentliche Text vom Evangelisten verändert worden ist. Dafür nur einige Beispiele:
Johannes benutzt Jes 52.13; 28.16 und Ex 34.6, desgleichen das „Ego Eimi“ aus Deuterojesaja - aber er zitiert nicht.
Wenn dem Evangelisten die Bezeichnung Jesu als „Knecht Gottes“ aus Deuterojesaja als nicht angemessen erscheint, ersetzt er sie durch die Bezeichnung „Menschensohn“·, verbindet also den Titel Menschensohn mit Erhöhung und Verherrlichung des Knechtes Gottes.
Hätte Johannes nur ein einziges Mal das Wort „Heute“ aus Ps 95.7 gebraucht - und nicht sein „nun“ wie in 4.23 und 5.24-5 - dann würden wir schon früher Ps 95 als wichtigen Hintergrund für den Evangelisten und viele seiner Aussagen gesehen haben.
Warum aber ändert Johannes das „Heute“ in das „nun“ um? Ich habe darauf hingewiesen, dass Johannes ein bestimmtes Muster benutzt, um die Jesuszeit in Verbindung mit der Exoduszeit zu bringen.7 Als Verbindungsglied benutzt der Evangelist eine Prophezeiung aus Jesaja/ Deuterojesaja: Die Israeliten tranken einst beim Auszug in der Wüste Wasser aus dem Fels. Die Prophezeiung von Jes 28,16 besagt, dass derjenige, der an den Messias glaubt, leben wird und die Prophezeiung von Deuterojesaja spricht für Johannes davon, dass der Messias die Durstigen zum Trinken einladen werde. Joh 7,37ff wird dann die Erfüllung dieser Verheißung dargestellt - nur durch Jesus ist das Konzept des Exodus zum erfolgreichen Ende gekommen! Und zwar in dem Augenblick, in dem die Menschen hören - heute!
Indem Johannes Ps 95 mit den dazugehörenden Paralleltexten (Exod 17,1ff; Num 14,1ff; Deut 9,22-4; 29,18; 33,8. 11 benutzt, fügt er die Idee des „glauben an IHN“ aus Jes 28,16 hinzu und die Prophezeiung Jes 48,6 mit dem „nun“ (beachte den Kontext!) und zeigt auf diese Weise, dass der Exodus zu seinem verheißenen Ziel dann kommt, wenn Menschen „heute“ (Ps 95,7) = „nun“ (Jes 48,6) auf die Stimme des Messias hören, an ihn glauben und in die verheißene „Ruhe“ (Ps 95,11) = in das ewige Leben (Jes 28,16) eingehen.
Vgl Joh 5,24-5: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört (Ps 95,7) und glaubt dem, der mich gesandt hat (Jes 28,16), der hat das ewige Leben (Ps 95,11/Jes 28,16) und kommt nicht in das Gericht (Ps 95,11), sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen (Ps 95,11/Jes 28,16).“
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt (Jes 48,6), dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes (Ps 95,7), und die sie hören werden (Ps 95,7), die werden leben (Ps 95,11/Jes 28,16).8·

Psalm 95 in Qumran

Auch wenn Ps 95 in den Qumranschriften nie zitiert wird, so ist er doch mit seinen Parallelen (Ex 17,1ff; Deut 9,22-4; 29,18 und 33,8-11) für die Sektenmitglieder in der Wüste sehr wichtig.

CD 1.1 beginnt mit der Ermahnung der Mitglieder, auf die „Werke Gottes“ zu achten (Ex 34,10). Denn Gott „streitet“ (hebr. rib) - also wie in „Meriba“ - mit allem Fleisch. Die ersten Bundesangehörigen zur Exoduszeit haben Gottes Werk nicht geachtet (Ps 95,9). Nach einer „Zeit des Zorns“ (CD 1.5/Ps 95,11) eröffnet sich für die Leute in Qumran eine neue Möglichkeit innerhalb der letzten Generation (1.12). Es ist das die allerletzte Möglichkeit, die Gott einräumt. Die Qumran-Leute sollten nun die Werke Gottes sehen und verstehen im Gegensatz zu dem Volk in der Wüste damals (Ps 95,9) und nicht in der Verstocktheit ihres Herzens wandeln (Ps 95,8/CD 2.17-8). CD 3.7 spielt auf Massa an, als die Israeliten der Exoduszeit nicht auf die Stimme ihres Schöpfers hörten (Ps 95,6ff). Aber CD versteht das Ereignis in der Wüste auf die Weise, dass es damals einige gab, die in den Bund eintraten und sich an Gottes Gebote hielten - so wie auch die Bundesgenossen der Endzeit in Qumran sich an Gottes Satzungen halten, um Leben in Gottes neuem Hause zu haben, dem Haus, das auf den Fels gebaut ist (CD 3.16ff vgl Jes 28,16). Die Bedeutung der Ereignisse in Massa und Meriba für die Leute in Qumran in der eschatologischen Zeit kann auch aus 4Qtest erschlossen werden, wo sich eine Anspielung auf Deut 33,8ff findet: Levi war es, der Gottes Wort und den Bund zu Massa bewahrt hat. Levi ist also Vorgänger jener Bundesangehörigen zu Qumran. Und in 4QpPs 37 wird Ps 37,5ff - dass der Gottlose in geringer Zeit nicht mehr sein wird - in Verbindung gebracht mit den 40 Jahren in der Wüste. Die Deutung von Ps 37,10 - „aber er ist nicht mehr“ „bezieht sich auf alle Gottlosigkeit am Ende der vierzig Jahre (vgl Ps 95,10), da sie vertilgt sind und nicht mehr gefunden wird im Lande ein Mann der Gottlosigkeit.· Den „Umkehrenden der Wüste, die leben werden tausend Geschlechter in Israel·, „wird das ganze Erbteil des Menschen gehören und ihrem Samen in Ewigkeit.“ (3.1)

Ergebnis: Die Bundesangehörigen von Qumran erfüllen die Erwartungen von Ps 95, indem sie auf Gottes Stimme hören, auf seine Werke achten und seinen Bund bewahren. Das führt zum Ende von Gottlosigkeit auf Erden. Gottes Lob wird in der Wüste gesungen, denn er ist der Fels der Gemeinde (Ps 95,1). Die verheißene Ruhe (Ps 95,11) ist also in Sicht.

Ps 95 und rabbinische Interpretation

Im Talmud finden wir eine Diskussion über die Dauer der „Tage des Messias·. R. Eliezer, vertritt die Meinung im Hinblick auf Ps 95.10, dass die Tage des Messias vierzig Jahre dauern werden.9 R. Akiba behauptet, dass es für die Wüstengeneration keine „Ruhe“ (Ps 95.11) gebe, während R. Eliezer sagt, indem er Ps 50.5 und Exod 24.5, 8 aufeinander bezieht, dass sie doch in die zukünftige Welt kommen werde, weil geschrieben ist „gather my saints together unto me; those that have made a covenant with me by sacrifice.“ Aber R. Joshua b. Karha sagt: „This verse was spoken only in reference to future generations, "gather my saints together unto me" - this refers to the righteous of every generation...·10 Dass man Ps 95.7 als eine Weissagung für die Tage des Messias verstehen konnte, wird auch am Gespräch R. Jehoshua's mit Elia klar. „Heute· (Ps 95.7) wird der Messias kommen, aber nur wenn die Bedingung erfüllt ist: „...wenn sie seine Stimme hören“.11

Im Midrasch zu Exod 25.12 lesen wir: „R. Levi said: If Israel kept the Sabbath properly even for one day the son of David would co­me. Why? Because it is equivalent to all the commandments; for so it says; For He is our God, and we are the people of His pasture, and the flock of His hand. To-day, if ye would but hearken to His voice!“·This means: Today (or the day) is applied to the Sabbath. God would redeem his people if they but hearkened to His voice, in re­spect of the day, sc. the Sabbath. And R. Johanan said: „The Holy One, blessed be He, told Israel: "Though I have set a definite term for the millennium which will come at the appointed time whether Israel returns to Me in peni­tence or not, still if they repent even for one day, I will bring it before its appointed time! Hence "Today, (redemption cometh) if ye would but hearken to His voice!" and just as we find that the son of David will come as a reward for the observance of all com­mandments (one day), so also will he come for the observance of one Sabbath day, because the Sabbath is equivalent to all com­mandments.·So zeigt also rabbinische Exegese sehr klar die eschatologische Bedeutung jenes „heute·.

Ps 95 im Hebräerbrief

Für den Verfasser des Hebräerbriefes stellt Ps 95 eine wichtige Argumentationshilfe dar im Hinblick auf eine christliche Gruppe mit großen Schwierigkeiten: Diese Gruppe steht in der Gefahr, den Glauben, die Hoffnung und die Geduld zu verlieren, sowohl wegen der Verfolgung als auch wegen des langen Wartens auf das Ende dieser Welt, wenn Erde und Himmel bewegt werden (Heb 10.36; 12.26b). Diese Gruppe ist also in der Gefahr, denselben Weg wie die Menschen von Ps 95 zu gehen, die dann in der Wüste gestorben sind und von denen niemand zur „Ruhe” gekommen war. Nun, nachdem Gott in Christus ein zweites und letztes Mal gemäß Ps 95.7 gesprochen hat und die zugesagte „Ruhe” sehr nahe ist, ermahnt der Verfasser des Hebräerbriefes jene christliche Gruppe immer wieder und verstärkt seine Ermahnungen durch Schrifterklärungen von der Überlegenheit Christi über Mose, des Sohnes über den Knecht, des Neuen Bundes über den Alten und er tut das, indem er das „Heute” von Ps 95.7 betont. Der Bezug auf Ps 95.7 beginnt bereits in Heb 1.1-2, geht dann weiter zu 2.1-3, 4, 10 und dann zu 3.7ff und Kap. 4. Heb 10.35 gehört in die Nähe von Ps 95.11 und der Christus von 1.1-2 ist gleichzeitig der Christus der Erfüllung in 12.2. Christus ist das verheißene Wort von Ps 95.7, der Schöpfer der Welt und ist größer als Engel und Mose. Das „Heute·, wenn es gehört wird, hilft den Kindern Jesu durch die Verfolgung hindurch hinein in die „Ruhe” von Ps 95.11, in den Himmel.

Ps 95 im Hebräerbrief und das Verhältnis zu den Qumran-Leuten

Der Verfasser des Hebräerbriefes sagt - ganz anders als die Qumran-Leute - dass die ganze Generation des Auszuges ihr Heil bei der „Verbitterung” verloren hat (Heb 3.16-17). Nach Meinung der Qumran-Leute gab es einige, die damals den ersten Bund bewahrt hatten und dass sie selbst nun in diese Tradition des Gehorsams eintreten können, geleitet vom Lehrer der Gerechtigkeit. Sie wissen, dass der Tag des Krieges zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis sehr nahe ist, aber - wie 1QpHab 7.6 zeigt - nicht nahe genug. Die lange Dauer des „Heute” von Ps 95 muss sowohl von den Qumran-Leuten als auch vom Verfasser des Hebräer­briefes (10.37) erklärt werden - beide Male durch Bezug auf Hab 2.3-4. Dasselbe Zitat mag im Hintergrund des johanneischen Aus­druckes der „kleinen Weile“ (Joh 16.16-19) stehen.[12]

Des vierten Evangelisten Interpretation von Ps 95

Auch Johannes bezieht - wie Qumran-Leute und Rabbis - Ps 95 auf die Endzeit. Für den Evangelisten ist diese Zeit in Jesus ge­kommen: „Denn ER (nämlich der Messias) ist unser Gott, und wir das Volk seiner Weide” (Ps 95.7a). ER (Jesus) ist der Hirte der Schafe (Joh 10.2). Die Schafe hören seine Stimme (Ps 95.7/Joh 10.3). Alle, die vor diesem Hirten gekommen sind, waren Diebe und Räuber, aber die Schafe haben nicht auf sie gehört (Joh 10.8). Nach der Auffassung des Johannes war es während der ganzen Zeit seit dem Ungehorsam in der Wüste beim Exodus bis zur Messiaszeit nicht möglich, die Stimme von Ps 95.7 zu hören. Die Exodusgene­ration hatte die Erfahrung des Wirkens Gottes gemacht - „Werke”·, „Brot vom Himmel”·, „Wasser aus dem Felsen”·. Diese Erfahrung kön­nen die Menschen der Jesuszeit erneut machen: Gottes „Werke” vollbringt er, ist selber „Brot vom Himmel· und bietet das „Wasser aus dem Felsen· an, ist auch das „Licht·, das in der Finsternis scheint. Er ist in der Welt und die Welt kann seine Stimme hören. Aber die Reaktion auf Gottes Handeln in der Exoduszeit wiederholt sich in der Messiaszeit: Einige glaubten nicht seinen Werken, glaubten nicht an ihn, den der Vater gesandt hat, sondern „murrten” (6.41), einige wollten ihn gefangennehmen (7.44) einige wollten ihn sogar steinigen (8.59) und konnten sein Wort nicht hören (8.43).

Ich gehe nun nach diesen einführenden Beobachtungen die einzelnen Kapitel des Johannesevangeliums entlang und zeige Worte auf, die man wahrscheinlich oder möglicherweise auf dem Hintergrund des 95. Psalmes sehen kann.

Joh 1-3
Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf (1.11), einige nahmen sein Zeugnis nicht an (3.11). Alle diese negati­ven Reaktionen auf Gottes Handeln in Christus bedeuten Todesgefahr wie damals, als die Schlangen in der Wüste töteten, aber Gott will das Leben der Menschen durch den Sohn, der am Kreuz erhöht wird. Noch einmal können Menschen sehen und glauben und leben (3.16) wie in der Mosezeit. Jetzt ist also die Zeit des Gerichtes, der Krisis, aber sie ist nur für die gefährlich, die die Finsternis mehr als das Licht lieben, auf ihre eigenen bösen Werke bauen (3.18-9). Für die Glaubenden bedeutet die Erhöhung Jesu am Kreuz Leben. In der Zeit zwischen Exodus und Messiaszeit konnte man die Stimme von Ps 95.7 nicht hören. Gott gibt ja den Geist nicht nach dem Maß (3.34). Aber jetzt gibt es die Möglichkeit, zu glauben und ewiges Leben zu haben. Jedoch: Wer nicht an den Sohn glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der „Zorn” Gottes (Ps 95.11) bleibt über ihm (3.36).

Joh 4
Für die Samaritanerin wiederholt sich die Exoduszeit, als ihr le­bendiges Wasser angeboten wird (4.10). Die Stunde kommt ja - und sie ist „jetzt” wenn die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten (4.23). Jesus ist der “Ego Eimi”, die Heute­Stimme. Er muss das „Werk Gottes” vollenden (Ps 95.9/ Joh 4.34). Gott hatte in der Exoduszeit gesät, Jesus erntet nun, beide freuen sich gemeinsam (4.36). Samaritaner erkennen Jesus als Heiland der Welt (!) an. Das Exodusereignis ist nicht länger ein Ereignis nur für Israel, sondern bedeutet Leben oder Gericht für die ganze Welt.
Joh 5
Nach Joh 5 wiederholt sich das durch den Vater in Gang gesetzte Exodusereignis auf höherer Ebene (5.16, 18, 19) durch Jesus: „jeder” - in der ganzen Welt! - „der mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt (Ps 95.7), dass die Toten hören werden die Stim­me (Ps 95.7) des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die wer­den leben (Ps 95.11).·Mit diesen Worten überbrückt Jesus die Zeit zwischen den Men­schen vom Exodus bis zur Zeit des Messias, indem er alle, die ge­storben sind, in Gottes Ruhe hineinruft, sie anruft - und diejenigen, die hören, die werden leben. In Joh 5.26 wird die Stimme von Ps 95.7 mit der Gestalt des Menschensohnes von Dan 7.13 zusammen­gebracht. Jesus als Gottes verheißene Stimme von Ps 95.7 muss die Werke des Auszugs vollbringen (5.36), aber einige von seinen Zuhörern haben sein Wort nicht in sich wohnen (5.38) und wiederholen so die Ereignisse von Massa und Meriba. Als Mose von dem Pro­pheten schrieb, der kommen sollte (Deut 18.15ff), da hat er von Je­sus geschrieben. Den Worten des Mose sollte man glauben (5.47). Die Stimme von Ps 95.7 und die Stimme des Propheten von Deut 18.15ff sind identisch. Genauso, wie die Menschen vom Auszug die Werke Gottes sehen konnten, können auch die Menschen der Jesuszeit Gottes Werke se­hen und die Zeichen, von Jesus vollbracht, aber viele sind nur an materiellem Brot interessiert und nicht an Himmelsbrot. Sie „mur­ren” genauso, wie ihre Vorväter in der Wüste murrten und verachten so Gottes Brot, Jesus Christus, das Leben nicht nur dem jüdischen Volk des neuen Exodus gibt, sondern der ganzen Welt (6.26, 29, 31-3, 36-7; 41, 45, 48). Die Vorväter in der Wüste aßen Manna und starben (Ps 95.11), während das Ziel des Gottesbrotes Leben ist (Joh 6.50). Aber Me-riba (von der hebraeischen Wurzel rib = strei­ten) ereignet sich ein zweites Mal. Das griechische Äquivalent für rib ist emachonto . „Da stritten die Juden untereinander”...· (Joh 6.52). Und Jesus betont, dass das Leben - das von Ps 95.11 - nur erreicht werden kann durch das Essen des Fleisches des Menschen­sohnes und durch das Trinken seines Blutes. Die „Stimme” von Ps 95.7 wird also durch Johannes interpretiert als das Wort Jesu und die Tat Jesu beim Abendmahl und am Kreuz (6.53, 56, 58). Die Reaktion von einigen der Zuhörer Jesu - unter ihnen sogar Jünger - erinnert erneut an Ps 95: an das Verhärten der Herzen (Ps 95.8). Diese Zuhörer sprechen von Jesu Worten als „harten" Worten und stolpern so über das Skandalon, den Messias (Jes 8.14), an den sie doch glauben sollten, um Leben zu haben (Jes 28.16/Joh 6.60-1, 64). Aber als Repräsentant einiger Zuhörer spricht Petrus seine be­rühmten Worte (6.68) und zeigt so, dass es einige gibt, die auf die verheißene Stimme von Ps 95.7 gehört haben und ihren Weg zum Leben gefunden haben. Damit wird der alte Exodus zu dem Ende gebracht, das Gott beabsichtigte, als er sein Volk aus dem Sklaven­haus führte.
Joh 7
In Joh 7 findet man einige Elemente, die auf dem Hintergrund von Ps 95 gesehen werden können: Joh 7.3, 4, 12, 16, 31. Die wich­tigsten Aussagen jedoch sind jene, wo Jesus in Parallele zu Mose in Exod 17.1ff gesehen wird: Joh 7.37ff. Die Menschen des ersten Exodus hätten Mose beinahe gesteinigt (Exod 17.4), wie auch eini­ge von Jesu Zuhörern beginnen, ihn zu steinigen (8.59). Die Israeli­ten des ersten Exodus erhielten durch Mose Wasser aus dem Felsen, weil Gott zu Mose gesagt hatte: „Siehe, ich will vor dir stehen auf dem Fels am Horeb. Da sollst du an den Fels schlagen, so wird Wasser herauslaufen, dass das Volk trinke." In Joh 7.37 ist es Jesus als Vertreter Gottes, der da „steht” und die Menschen einlädt, Was­ser zu trinken, das er gibt „am letzten Tag des Festes, der der höchste war”·. Die Möglichkeit der Exoduszeit, Gottes Werk zu be­achten, ist in der Jesuszeit erneut da. Die Verheißung von Ps 95.7 ist in Jesus erfüllt und nun gibt es eine Entscheidung - oder, wie Johannes es verschiedene Male formuliert - „Es entstand seinetwegen ein schisma im Volk” (7.43). Einige beschreiben Jesus als die verheißene Stimme aus Ps 95.7 - „Noch nie hat ein Mensch so ge­redet wie dieser" (7.46). Andere bestreiten, dass Jesus der verheiße­ne Prophet wie Mose ist (7.53).

Joh 8
Johannes benutzt in seinem Evangelium nie das Wort „Ruhe” aus Ps 95.11. Er gibt anderen Worten den Vorzug, die dasselbe meinen. Er sagt „Leben·, „zum Vater kommen”·, zu den „Wohnungen” oder - wie in 8.12 - „das Licht des Lebens haben”. Aber jeder, der Jesus nicht nachfolgt, wandelt in der Finsternis (8.12) wird in seinen Sün­den sterben (8.21, 24), wird in der Knechtschaft bleiben (8.33), weil er nicht auf die Stimme von Ps 95.7 hört, sondern auf die Stimme des Teufels als des Vaters - wie auch Kain auf den Teufel hörte und seinen Bruder (mit einem Stein) tötete. So suchten ja auch die Nachfolger des Kain, Mose zu steinigen (Exod 17.4) und so versu­chen einige der Zuhörer Jesu, ihn zu steinigen (Joh 8.59). Jesus identifiziert sich in 8.25 mit der Stimme von Ps 95.7, wenn Zuhörer ihn fragen: „Wer bist du?" Er antwortet ihnen dann: ten archen ho ti kai lalo hymin ? Die Übersetzung dieses Ausdruckes ist unklar. Das zeigen die Kommentare. Vielleicht bedeutet es „Als erstes, ich bin die Stimme (Ps 95.7), die zu euch spricht”·. Das würde mit den fol­genden Worten zusammenstimmen:“...der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt.” (8.26, 30, 40, 47). Die Verheißung des Lebens gemäß Ps 95.11 wird in 8.51 wiederholt.

Joh 9
Die „Werke Gottes” in 9.3-4 erinnern an Ps 95.9 und diese Werke können nur solange getan werden, wie es Tag - „heute” ist. Das „Heute”·des Tages findet sein Ende in der Nacht, „da niemand wir­ken kann” (9.4). Jesus ist das „Licht der Welt· (9.5). In 9.16 wird wieder auf das schisma hingewiesen, das Werke, Zeichen und Wunder herbeiführen: Entweder wird Jesus betrachtet als „Prophet” (9.17), „Messias”·(9.22), als „von Gott” (9.33), „Menschensohn”·, als Stimme aus Ps 95.7 sprechend (9.37, 35-8) oder: Er ist ein Sünder (9.24). Das „Heute” von Ps 95.7 bewirkt schisma und Gericht. Das Gegenteil von „Ruhe” und der johanneischen Synonyme lautet dann: „Eure Sünde bleibt”.

Joh 10
In Joh 10 findet man überall Anklänge an Ps 95. Das „Denn er ist Gott, und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand” (Ps 95.7) lautet in johanneischer Sprache: „Ich bin der gute Hirte. (Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe)” (10.11; cf. 10.14). Das „Heute, so ihr meine Stimme hört” (Ps 95.7) findet man in 10.3, 4-5, 27. Sie „sahen meine Werke· (Ps 95.9) lautet in johanneischer Sprechweise: „Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir” (10.25). „Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht; tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt...” (10.37-8). Es gibt einige, die den Werken glauben (10.41-2). Das schisma, das die Stimme von Ps 95.7 bewirkt, wird in 10.19ff genannt. Die Verheißung der „Ruhe” von Ps 95.11 wird johanneisch formuliert in 10.9, 16, 28. Das Ereignis von Massa hat seine Parallele in 10.31: Einige Zuhörer Jesu „hoben abermals Steine auf, um ihn zu steinigen”·. Das Umsetzen von Ps 95 in der Messiaszeit findet nach dem Johannesevangelium an den Zentren des jüdischen Lebens statt: in Kapernaum (6.59), während des Laubhüttenfestes in Jerusalem (7.10) und während des Tempel­weihefestes, in der Halle Salomos 10,22-3 und dann im Zentrum römischer Macht in Jerusalem vor Pilatus. Für Johannes ist die Umsetzung von Ps 95 in der Messiaszeit ein weltweites Ereignis: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden” (10.16). Für das jo­hanneische Verständnis von Ps 95 ist es sehr wichtig, dass die Stim­me auf die ganze Welt zielt und dass Jesus frei und offen vor aller Welt geredet hat, in der Syngoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen. Im Verborgenen hat er nichts geredet (18.20).

Joh 11
Johannes hat über die Jesuszeit nachgedacht. Das Leben des Messias besteht aus Tagen - dem ersten (1.35), dem folgenden Tag (1.43), dem dritten Tag (2.1), aber dieses besondere Leben Jesu kann auch als ein Tag gesehen werden, als das „Heute” von Ps 95.7 mit seinen Stunden. Jesus wirkt die zwölf Stunden des Tages (11.9). Dieser Tag endet mit der Nacht (13.30). Aber Jesus selbst ist Herr seiner Zeit. Martha, die etwas weiß von dem „Heute” (11.22), erfährt ewiges Leben im Glauben an Jesus (11.25ff) und gelangt so in die verheißene „Ruhe” von Ps 95.11 gemeinsam mit ihrem geliebten Bruder Lazarus, der die laute Stimme von Ps 95.7/Joh 11.43 hört. Von der Teilung der Menschen in zwei Gruppen, wie sie im Johannesevan­gelium oft gezeigt wird, wenn Menschen ein zweites Mal auf die Stimme von Ps 95 hören können, wird in 11.45-6 gesprochen. Von Jesus her gesehen, bedeutet das Nicht-Hören auf diese Stimme den Tod (11.47ff).

Joh 12
In Joh 12 ist die letzte Stunde des Heute-Tages gekommen, als einige Griechen, Symbol für die Menschen der ganzen nichtjüdi­schen Welt, Jesus sehen wollen (12.20-3). Wie ich schon gezeigt habe, zielt diese erneut zu hörende Stimme von Ps 95 nicht mehr nur auf die Juden, sondern auf die ganze Welt. Die Himmelsstimme (12.28), die die Stimme Jesu als die Stimme von Ps 95.7 authori­siert, führt wiederum zu einer Teilung der Menschen. Die Stimme bedeutet Gericht - jetzt (12.31), heute. Für einige ist die Stimme nur Lärm, ein Donnergrollen, für andere ist sie eines Engels Stim­me. Das „Heute” enthält die Möglichkeit des Lichtes, danach folgt Finsternis (12.35-6). Einige „irren in ihrem Herzen” (Ps 95.10), ob­wohl sie Sein Werk sahen (Ps 95.9/Joh 12.37). Die Reaktion der ersten Hörer der Stimme in der Exoduszeit wird teilweise wieder­holt in der Zeit der zweiten Stimmerhebung. Das ist der Grund da­für, dass Jesus einen letzten Versuch macht, seine Zuhörer für den Glauben an Gott, für das Licht, die Rettung und für das Leben zu gewinnen (12.44ff). Nach dem Ende des „Heute” Jesu werden seine Jünger die Stimme repräsentieren, so wie Jesus die Stimme seines Vaters repräsentiert hat.

Joh 13-17
Joh 13-17 zeigt, wie das „Heute” Jesu durch seine Jünger ausgeweitet wird und durch den Parakleten (13.20; 14.12ff; 15.20, 26-7; 16.8, 13; 17.18, 20), während das „Heute” des Judas zu seinem Ende gekommen ist (13.30). Auch andere, die jetzt nicht auf die Stimme gehört haben, haben keine Entschuldigung für ihre Sünde mehr (15.22). Aber jene, die begonnen haben, an Jesus zu glauben, emp­fangen das neue Gebot (13.34) und die Zusage der „Ruhe” von Ps 95.11 - die vielen Wohnungen (14.2),[13] Leben (14.19), Frieden (14.27), das Bleiben zusammen mit dem Vater und dem Sohn (17.24). Aber es bleibt eine große Frage für die Jünger, obwohl die Stimme Jesu an allen wichtigen öffentlichen Plätzen Israels gehört werden konn­te: „Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?” Jesu Antwort betont die individuelle Entscheidung eines jeden Menschen in dieser Welt: „Jeder, der mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.” Diese Antwort erinnert mich an die schon zitierte Talmud-Stelle, dass der Messias „heute” kommt, d.h. „Heute, so ihr meine Stimme hört” (Ps 95.7).
Joh 17 ist teilweise ein Gebet für die, die die Stimme gehört ha­ben, die Werke gesehen haben, an den geglaubt haben, den der Va­ter gesandt hat und die den Sohn verherrlichen (Ps 95.1-2). Es wird im Gebet gezeigt, dass das „Heute” durch die Jünger weitergehen wird (17.18), die sowohl Hass erfahren werden wie ihr Meister, aber auch Freude, Einheit und Liebe.

Joh 18-21
Die Passions- und Auferstehungsgeschichten enthalten einige wichtige johanneische Worte, die man auf dem Hintergrund von Ps 95 sehen kann: 18.20 spricht davon, dass Jesus „frei und offen vor aller Welt geredet hat...in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen”·. Die Stimme von Ps 95, die früher nur auf Juden ausgerichtet war, wendet sich nun an alle Juden und an die Welt, ist also ein weltweites Ereignis. Das wird noch einmal vor Pilatus unterstrichen (18.37), wenn Jesus sein Reich proklamiert, in das jedermann gerufen wird, der „aus der Wahrheit ist und höret meine Stimme”·. Das „Heute” Jesu kommt dann in 19.28-0 zur
Vollendung. Die Zeit des Geistes (19.30) und der verkündigenden Ge­meinde (19.35; 20.21; 21.15) beginnt. 20.30-1 spielt auf die verheiße­ne „Ruhe” an. Als Synonym wird dafür „Leben” benutzt. 20.30-1 zeigt, dass das „Heute” von Ps 95 auch durch das Vierte Evangelium weitergeht.