Joh. 8.44 - Gotteskinder / Teufelskinder - Wie antijudaistisch ist "die wohl antijudaistischste Äusserung des NT"?

Gottes Kinder im Konzentrationslager

 

WIE ANTIJUDAISTISCH IST " DIE WOHL

ANTIJUDAISTISCHSTE ÄUSSERUNG DES NT" ?

(ursprünglich in: NTS, 30 1984, 619-24 und JOCHANAN, 352-59)

Abstract

Der Aufsatz zeigt anhand jüdischer Anschauungen über Kain und dessen Vater, was Jesus meint, wenn er einigen Juden, die ihn steinigen wollen, sagt, dass sie Kinder des Teufels sind.

Nach J. Becker1 zu Joh. 8.44 ist "Jesu Antwort wohl die antijudaistischste Äußerung des NT...".
Ich erinnere mich, folgendes Foto aus der Hitlerzeit gesehen zu haben: Am Eingang eines fränkischen (?) Dorfes war ein Schild aufgestellt mit den Worten "Der Vater der Juden ist der Teufel". Ich möchte die Berechtigung dieses sich auf das Johannesevangelium berufenden Antijudaismus untersuchen.

1. N.A. DAHLS ARTIKEL ZUM VERSTÄNDNIS VON JOH. 8,44

Dahl2 vermutet für die Bezeichnung "Erstgeborener Satans" in Polyk. 7.1 einen jüdischen Ausdruck als Wurzel und weist darauf hin, dass die Haggada von dem durch den Teufel betrogenen Adam spricht. Der Teufel hat mit Eva den Kain gezeugt. Diese Anschauung steht dann auch hinter gnostischen und christlichen Aussagen, die Dahl anführt. Dahl zeigt auch, dass der von Polykarp als Erstgeborener Satans bezeichnete christliche Ketzer ähnlich spricht wie der Kain des Targum: "Es gibt kein Gericht, es gibt keinen Richter, es gibt keine andere Welt...". Dahl behauptet dann, dass die Ketzerpolemik Polykarps auf einer Kombination von johanneischen Texten mit einer targumartigen Auslegung von Gen. 4.1-8 beruht.

Im zweiten Teil seines Aufsatzes untersucht Dahl zuerst den Kontext von Joh. 8.44. Weil das Töten mit einem Stein Werk Kains war und dem Mord ein Streitgespräch mit Abel vorausging, ist nach Dahl auch Kain in Joh. 8.38 und 8.41 gemeint (vgl. Joh. 8.59).

Für Joh. 8.44a vermutet Dahl einen Textfehler und macht im Hinblick auf Polyk. 7.1 folgenden Textvorschlag: "Hümeis ek tou prototokou (or hüou tou diabolou) este oder " ek tou patros tou ek tou diabolou"

Der Textfehler könnte aus der Übersetzung einer aramäischen Quelle stammen, von kirchlicher Redaktion oder - und das ist für Dahl das wahrscheinlichste - vom Abschreiber.

In einem dritten Teil untermauert Dahl seine These mit der Untersuchung von Stellen aus dem 1. Johannesbrief und kommt zu dem Schluss: "Auch vom 1. Johannesbrief und Polykarp aus bestätigt sich die Vermutung, dass in Joh. 8.44 ursprünglich nicht vom Vater des Teufels, sondern von Kain als Vater der Juden und Sohn des Teufels die Rede war."

2. AUFNAHME DES ARTIKELS VON DAHL IN KOMMENTAREN

R. Schnackenburg3nimmt den Vorschlag von Dahl, in Joh 8.38 und 8.41 Kain zu sehen, nicht auf und bezeichnet die Spekulation, ob in 8.44 ursprünglich mit dem "Vater" Kain gemeint war, als "abwegig". S. Schulz4erwähnt die Kain-Hypothese Dahls nicht und schreibt: "Israels Vater ist der Teufel! Das ist eine einmalig scharfe Aussage, die sich so im gesamten Neuen Testament nicht mehr findet."

J. Becker5fragt zu Joh 8,44: "Schimmert durch die zweite Hälfte noch hindurch, dass ehedem von Kain die Rede war...?" Er sagt dann: "Man kommt ohne solche Hypothese aus: Der Teufel ist der Vater der Juden. Darum wollen diese die Begierden (Singular im Johannesevangelium) ihres Vaters tun, d.h. er regiert ihren Willen und die Qualifikation ihrer Taten...". Haenchen6 erwähnt zu Joh. 8.38. 41 die Kain-Hypothese nicht, schreibt aber zu V.44: (Dieser Vers) "lässt sich aber unter drei Bedingungen verstehen: 1. man setzt zwischen "Vater" und "des Teufels" ein Komma oder tilgt dieses "Vater" oder fügt ein Kain ein. 2. man liest statt tou patros ein patros.  Es dürfte hinter hümeis ek tou patros ein hümoon sehr früh ausgefallen sein."Haenchens Lösung für den Schluss von V.44 sieht dann so aus: "Wenn jemand die Lüge spricht, redet er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und sein (d.h. dieses Menschen) Vater", eben der Teufel. Dann hat man nicht nötig, mit Hirsch, Studien 78-80, Kain zum Judenvater zu machen. Der Teufel ist der Vater der Juden, und er hat in der Wahrheit nicht Bestand gehabt, d.h. er ist gefallen." L.Morris7zitiert Dahl nicht. Er sagt zu Joh. 8.41: "In v.44 it is explicitly said that their father is the devil and it would be perverse to understand this verse differently."

Auch B. Lindars8erwähnt Dahl nicht. Er sagt zu Joh 8.44, dass man "Teufel" wahrscheinlich als Glosse verstehen müsse. R.E. Brown9schreibt zu Dahl: "He probably carries the theory too far, however, in maintaining that the father of the Jews mentioned in 38 (?), 41, and 44 is Cain and not the devil." Und10: "We pointed out in the notes on vs. 44 that the specific charge of lying is to be connected with Satan's deception of Eve, and the charge of murder to the story of Cain."

3. EIGENE BEOBACHTUNGEN

(gr.) epithymia im Targum, in Qumran und im Johannesevangelium

Tg. Neofiti Gen. 4.7 heißt es: "Certainly, if you (sc. Cain) make good your work in this world it will be remitted and pardoned you in the world to come, but if you do not make good your work in this world until the day of the great judgement your sin is kept, and at the door of your heart your sin crouches, but into your hand I have given the dominion of the evil inclination (djzrh) and you have power over it for justification or for sin11."

Der Targum hat also das in MTGen. 6.5 singuläre jezer = epithymia eingetragen in die Situation Kains. Er hat die Möglichkeit, jezer zu kontrollieren und nicht zu tun. Diese Möglichkeit nutzt Kain jedoch nicht, als er Abel tötet und leitet somit das ein, was dann zur Aussage Gen. 6.5 führt.

Auch Aussagen aus Qumran sind auf dem Hintergrund von Gen. 6.5 und 4.7 zu sehen. In 1QHVII,3 wird von Belial geredet, von Bluttaten (s. Kain) und von der Begierde (1QS IV,5). Im Unterschied zu den Männern des Frevels wandelt keiner der Männer der Gemeinschaft nach dem Sinnen seines Triebes (1QS V,5).

epithymia ist im Johannesevangelium Hapaxlegomenon. Wenn es heißt: "...und ihr wollt die Begierden eures Vaters tun", so kann mit diesem Vater nur Kain gemeint sein. Nur von Kain - nicht vom Teufel - berichtet der Tg, dass er die Herrschaft über die böse Begierde hat und eine doppelte Möglichkeit durch die Herrschaft: Gerechtigkeit oder Sünde. Da die Gesprächspartner Jesu in Joh.8 ihn am Ende steinigen wollen, wie es Kain mit seinem Bruder gemacht hat, als er die böse Begierde nicht beherrscht hat, erweisen sie sich als Kinder dieses Vaters. Wie die Söhne des Lichts aus Qumran hätten sie jedoch auch die Möglichkeit gehabt, im Hinblick auf die Begierde heilig zu sein. Auch in Qumran wird nicht von Begierden des Teufels, sondern der Menschen gesprochen. Das "Tun" der "Werke des (bzw. eures) Vaters" in Joh. 8,38. 41 wird also in Analogie zu V.44 als Tun der Werke des Vaters Kain verstanden werden müssen.

Kain und Seth in samaritanischer Literatur

A.F.J. Klijn12zitiert über die Geburt von Kain und Abel: "Before Adam's repentance after his fall, Cain and Abel were born, but neither possessed Adam's image or the "ray" of his "light." "In one Samaritan text (the Malef) known to us, Cain and Abel are called "sons of Belial". ...Cain's children were "children of darkness". "Unlike Cain's children the children of Seth were children of light."

Wenn Jesus also in Joh. 8.48 "Samaritaner" geschimpft wird, meine ich, dass man ihn so nennt, weil er die Lehre der Kains-Sohnschaft vertritt, die auch (aber nicht nur) von Samaritanern vertreten wurde. Gleichzeitig wird klar, dass es eine negative Genealogie bei den Samaritanern gab: Teufel - Kain - Kainssöhne als Kinder der Finsternis. Kain ist also auch nach samaritanischer Anschauung aus Unzucht heraus geboren worden. Wenn Jesu Gesprächspartner in Joh.8 sagen, dass sie aus Unzucht heraus nicht geboren sind, meinen sie: Nicht wie Kain aus Unzucht heraus geboren.

Zum Textverständnis Joh.8.44

Ohne Textänderung ist Joh. 8.44 nicht zu verstehen. Meiner Meinung nach kommt die Unverständlichkeit von einem Abschreiber, dem die Anspielungen auf Kain - im Gegensatz zu den Gesprächspartnern Jesu in Joh.8 - nicht geläufig waren. Er meinte, verständlicher zu schreiben, wenn er den für ihn und seine Leser anonymen "Vater" in 8.38 und 41 mit dem Teufel in 8.44 identifizierte, indem er tou patros in den Anfang von 8.44 einfügte. Streicht man diese Einfügung, so kann man den Vers ohne jede weitere Textänderung folgendermaßen verstehen: Ihr stammt vom Teufel und wollt die Begierden (Kains, ) eures Vaters tun. Jener (Kain) war Menschentöter von Anfang an, und in der Wahrheit stand13er nicht, denn nicht ist Wahrheit in ihm14.Wenn er (Kain) die Lüge spricht, redet er aus seinem eigenen Bereich, denn er ist ein Lügner und sein Vater (der Teufel) ist es.

Die doppelte Möglichkeit Kains

Das Herrschen-können über die Begierde eröffnet Kain zwei Möglichkeiten: Gerechtigkeit oder Sünde - so der Targum. Zwei Möglichkeiten hat auch der Mensch nach der Lehre von Qumran: Heilige Begierde (1QS IV,5) oder verderbliche Begierde (1QH VII,3).

Zwei Möglichkeiten gibt es auch für den Menschen nach dem Johannesevangelium: Durch den Sohn wirklich frei zu werden, durch den Glauben Macht zu haben, Gottes Kind zu werden - oder töten zu wollen, den Sohn nicht aufzunehmen, ihn nicht hören können und so Kind Kains und des Satans zu bleiben, in der Geburt aus dem Fleisch zu bleiben (Joh.3,6). Aus dieser doppelten Möglichkeit Kains erklärt sich das überraschende Nebeneinander zweier sich eigentlich ausschließender Aussagen in Joh.1: "Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." Und: "Wieviele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden...".

(Ergänzung im September 2020):
Eine wichtige Parallele zur Sprechweise Jesu in Joh 8 – besonders Joh 8,44- findet sich in der Rede Johannes des Täufers in Lk 3,1ff – besonders Lk 3,7f - , wenn der Täufer die Volksmenge als „Schlangenbrut“ anspricht, die sich fälschlich auf ihre Abrahamskindschaft beruft. Die Volksmenge kann jedoch diesem Vorwurf „Schlangenbrut“ entkommen und sich mit Recht Kinder Abrahams nennen, wenn sie das tut, was der Täufer in Lk 3,10-14 lehrt. Die dadurch gegebene Möglichkeit einer neuen Existenz ist das Ziel des Täufers nach Lk 3 und Jesu in Joh 8. Eine Verallgemeinerung der Vorwürfe „Schlangenbrut“ und „Teufelskindschaft“ kann also weder dem Juden Johannes dem Täufer noch dem Juden Jesus als „antijudaistisch/antisemitisch“ angelastet werden – auch nicht den Evangelisten Lukas und Johannes.  Das Ziel ist ja echte Abrahamskindschaft.

 

Teufelskinder können Juden also nie grundsätzlich sein.

DIE "ANTIJUDAISTISCHSTE ÄUSSERUNG DES NT" ?

Die Aussagen des Evangelisten Johannes in Joh. 8 stellen keinen theologischen Neuentwurf dar, sondern knüpfen an jüdische und samaritanische Theologie an. Die jüdische Lehre hatte vor Johannes sogar zu einer Gemeindegründung in Qumran geführt. Dass diese Lehre von der doppelten Möglichkeit Kains heute noch im Judentum lebendig ist, zeigt einmal folgende von M. Buber überlieferte Geschichte15: "Rabbi Uri sprach: "Mein Lehrer, Rabbi Schlomo von Karlin, hatte die Seele Abels. Es gibt freilich auch Menschen, in denen die gute Wesenheit aus der Seele Kains wohnt, und die sind sehr groß." Die Lebendigkeit jener Lehre von der doppelten Möglichkeit Kains zeigt auch das von der Jüdin Else Lasker-Schüler ca. 1940/41 geschriebene Stück, "Ichundich" auf. "...und das darf Sie nicht wundern, meine Damen und Herren, dass ich mich kurzerhand radikal in zwei Hälften teilte, seelisch."So sind Faust und Mephisto in ihrem Stück eine in zwei Personen aufgeteilte einzige Person: Goethe. In dem Stück heißt es auch, dass die Armee Hitlers Öl für den Krieg braucht. Sie erwartet Beistand von Mephisto, der, "mit Herrn Adolf blutsverwandt", ihm bisher geholfen und sogar seinen Feuerofen für die Verbrennung der Juden ausgeliehen hat.

Der johanneische Jesus spricht nie generell von Teufels-kindschaft der Juden, sondern nur im Gegenüber zu einer bestimmten Gruppe, die steinigen möchte. Hinter diesem Sprechen steht nicht nur die Erfahrung der Kreuzigung Jesu, sondern auch die eigene existentielle Erfahrung des Evangelisten als eines aus der Synagogengemeinschaft ausgeschlossenen und verfolgten Juden, der sich für fromm haltende Juden als Steinigungs-Mörder an seiner Gemeinschaft erlebt (Joh. 16.1f). Ziel aller johanneischen Verkündigung gegenüber Juden ist aber nicht die Verkündigung einer Prädestination zu Teufelskindern, sondern die Verkündigung der Möglichkeit der neuen Geburt, der Geburt von oben. Der "Mann unter den Pharisäern, ein Ratsherr der Juden, Nikodemus mit Namen", steht für Johannes für die, "in denen" - nach der Buberschen Geschichte - "die gute Seele Kains wohnt". Jeder Jude und jeder Mensch ist für den Evangelisten ein "Ichundich". Er hätte nicht gezögert, jene, die ihn falsch zitiert haben, wenn sie sagten und schrieben "Der Vater der Juden ist der Teufel" und dabei die Ausrottung der Juden im Sinn hatten, als Kainskinder zu bezeichnen - die aber in sich zwei Möglichkeiten tragen.

 

So erweist sich Joh. 8.44 nicht als die
antijudaistischste Aussage des Neuen Testamentes,
sondern als die missverstandenste und missbrauchteste.

 

Mord!

 

 

 

 


[n1] J. Becker, Das Evangelium des Johannes (Gütersloh, 1979) S. 304

[n2] N.A. Dahl, "Der Erstgeborene des Satans und der Vater des Teufels (Polyk.7,1 und Joh 8,44)" in Apophoreta (Festschrift f. E. Haenchen) (Berlin, 1964).

[n3] R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2. Teil (Freiburg, Basel, Wien, 1971), 287.

[n4] S. Schulz, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4 (Göttingen, 1972, 136.

[n5] J. Becker, a.a.O. 308.

[n6] E. Haenchen, Johannesevangelium. Ein Kommentar (Tübingen, 1980), 371.

[n7]L. Morris, The Gospel according to John (London, 1971), 461.

[n8]B. Lindars, The Gospel of John (London, 1972) zu Joh.8.44.

[n9]R.E. Brown, The Gospel according to John I (New York, 1966), 358.

[n10]365.

[n11]A.D. Macho, Neophyti 1 (Madrid-Barcelona 1968ff).

[n12]A.F.J.Klijn, Seth in Jewish, Christian and Gnostic Literature (Leiden, 1977), 29-33.

[n13] Ich lese mit P75.

[n14] Weil Kain nach dem Tg im Streitgespräch mit Abel falsche Behauptungen aufstellt, wie die Schlange vor ihm in Gen. 3.4 eine falsche Behauptung aufgestellt hat. Die Gegenbehauptung Jesu lesen wir in Joh.8.21. 24.

[n15] In meinem Aufsatz, "John IV.44 - Crux or Clue?" in NTS 22 (1976), 476-80 habe ich gezeigt, dass Johannes eine ihm als aus der Tradition überkommene Geschichte der Verwerfung Jesu in Nazareth in Einzelelemente zerlegt hat und diese vornehmlich am Ende und Höhepunkt johanneischer Reden gebracht hat. Zu diesen Einzelelementen gehört z.B. das "Steinigen" (vgl. Lk.4,29. W. Grundmann, Das Evangelium des Lukas, Berlin, 1974, 7. Aufl. z. St., "Der Absturz von einem Felsen leitet eine Steinigung ein."). Johannes hat dieses Einzelelement als Kompositionsmittel noch in 10,31. 33 und 11,8 verwendet.

Wenn der Evangelist in negativer Weise von "den Juden" spricht, so ist damit nie das jüdische Volk als Ganzes gemeint, sondern die Gruppe, die sich durch Exkommunikationsbeschluss, verbunden mit Tötungsabsichten zu Kains- und Teufelskindern macht.