Woran erkennt man die Herkunft von Flüchtlingen in unserer Zeit? Bei Afrikanern sieht man es auf den ersten Blick, bei manchen hört man es an ihrer Sprache, bei anderen an der Musik, die sie machen. Welche Möglichkeiten aber hat man, die Herkunft der Flüchtlingsgemeinde des Johannesevangeliums herauszufinden? Da gibt es doch eine ganze Menge Anhaltspunkte: Da ist einmal der Ausschluss aus der Synagoge, da sind die Feste der Juden, die überaus vielen Anspielungen auf das AT, die nur intensiv forschenden jüdischen Menschen bekannt gewesen sein dürften. Das Johannesevangelium ist das Evangelium einer aus dem Judentum herkommenden Gemeinde. Aber man kann mehr sagen. So wie sich viele Jahre lang DDR und Bundesrepublik auseinander gelebt haben und ihren eigenen Sprachgebrauch entwickelt haben innerhalb von nur 40 Jahren, so haben sich in Israel drei Regionen auseinander gelebt: a) Die Juden im Süden, in Juda, - b) die Samaritaner, nördlich davon gelegen - c) die Galiläer, noch weiter nördlich. Die Zeit der Grenzziehung zwischen Juda und Israel war schon im Jahre 932 v. Chr. Der politische Untergang Israels mit der Hauptstadt Samaria war 722/21 v. Chr. Bestätigung fand die Grenze noch einmal etwa 520 v. Chr., als die Jerusalemer den der Glaubensvermischung verdächtigten Juden aus Samaria, aus dem Nordreich, verboten, am Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels mitzuarbeiten. Die Samaritaner bauten sich dann ihren eigenen Tempel auf dem Berge Garizim, benutzten in ihren Gottesdiensten nur die Fünf Bücher Mose. Eine kleine Gruppe von Samaritanern feiert bis zum heutigen Tage in diesem heiligen Bereich des Garizim ihr uraltes Passafest. Die Galiläer, an ihrer Sprache leicht von Judäern zu unterscheiden, hielten zwar am Tempelbesuch in Jerusalem fest, entwickelten jedoch keine Zukunftshoffnung, die mit David zusammenhing, dem großen König aus dem Südreich, der im Norden wohl immer mit Skepsis betrachtet wurde. Erst recht distanziert war der Norden gegenüber den Nachfolgern Davids, bis dann 932 v. Chr. die Eigenständigkeit des Nordreichs Israel erkämpft war. Wenn im Johannesevangelium die Hoffnung auf David und seinen endzeitlichen Sohn keine Rolle spielt, wenn eine Geburt Jesu in Bethlehem abgelehnt wird und das Gute aus Nazareth kommt, wenn man dagegen samaritanische Theologie geachtet sieht und wenn man im Johannesevangelium auch wie die Samaritaner auf den Propheten wie Mose hofft, dann wird man mit Fug und Recht sagen können, dass das Gros der Gemeindeglieder der johanneischen Gemeinde aus dem Nordreich kommt. Wenn man diese geographische Herkunft in Betracht zieht, wird manches im Johannesevangelium besser verstehbar, vergleicht man es etwa mit den Evangelien von Matthäus und Lukas. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas mit ihrem David - Bethlehem - Hintergrund hätte mit Bestimmtheit in der Gemeinde des Johannesevangeliums zu großem Nachfragen und zu Zweifeln geführt.
Die Weihnachtsgeschichte des Johannesevangeliums - wenn man einmal bei diesem Begriff bleibt - ist in Joh 1 enthalten, besonders dann in den Worten: "Und das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit" - 1,14. Die soziologische Frage nach der Herkunft der Flüchtlinge ist also mit der theologischen untrennbar verbunden: Hie Nordreich - da Südreich, hie Nordreichs-Theologie - da Südreichstheologie. In der Kirche werden sich die beiden Stränge dann wieder finden: Hie Betonung des Jesus von Nazareth - da Betonung des Jungfrauen- und Davidsohnes aus Bethlehem. Wenn man also ziemlich genau sagen kann, woher die Johannes-Gemeinde kommt, die sich auf der Flucht befindet, gibt es dann auch Möglichkeiten, etwas über die Richtung ihrer Flucht und den Endpunkt zu sagen ? Wenn Sie eine Israel-Karte aufschlagen, so sehen Sie, dass man aus dem Nordreich in folgende Richtungen fliehen kann: Über das Mittelmeer nach Ägypten, Griechenland, Rom, dann: nach Norden, also in den Libanon und über Syrien hinaus nach Kleinasien etwa, dann nach Osten über den Jordan in das von blühender griechischer Kultur geprägte Gebiet der sog. Zehn-Städte und nach Nordosten, also Richtung Bethsaida - Golanhöhen. Alle diese Gebiete sind von Forschern am Neuen Testament als Wohnort der johanneischen Gemeinde in Betracht gezogen worden. In neuester Zeit denkt man aber mit vielen guten Gründen an die Gegend im Nordosten, nur wenige Kilometer von Kapernaum entfernt. Dort ist ein Gebiet, in dem Juden und Griechen vermischt lebten und wo die Verfolgung durch antichristlich gesinnte Juden wohl - vielleicht auch nur zeitweise - erträglich war. Und: Statt der Isolation von der Synagoge erfährt die johanneische Gemeinde in ihrem neuen Wohnbereich eine neue Gemeinschaft, in der nicht mehr das Gesetz in rabbinischer Ausprägung, sondern das eine Gesetz, Liebe zu üben, gilt. Nicht der gemeinsame Gang in die Synagoge gibt Identität, sondern die in der johanneischen Gemeinde geübte Liebe. Sie ist Erkennungszeichen. Letzten Endes ging es aber den Gemeindegliedern nicht um eine neue Heimat in geographischer Hinsicht, sondern um das Bewusstsein, von Christus in das Leben geführt zu sein, das nicht genommen werden kann: " ...wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben" - 8,12 - und im Hause des Vaters ankommen - 14,2.
"Landkarte Israel"
Quazrin – Gebiet der Johannes-Gemeinden?
Aus der Literatur
Helmut Gollwitzer über den 24.12.1945: (Aus: H. Gollwitzer: Und führen, wohin du nicht willst München 1952 S.343)
"Siehe, ich verkündige euch große Freude!" Auf kleine, glattgehobelte Holzbrettchen - Papier war hier eine Seltenheit - hatten wir uns Weihnachtsgrüße geschrieben; am Kopfende meiner Pritsche stand eines, auf das ein Kamerad mir Joh. 14,18 gemalt hatte, da er es oft von mir in meinen Predigten gehört hatte: "Ich lebe, und ihr sollt auch leben." Beraubt waren wir all dessen, was das Leben lebenswert macht, und nun stand hier geschrieben, dass uns das Leben nicht endgültig versagt sein sollte. Ob uns Heimkehr (aus Russland) bevorstand oder das Grab in der hartgefrorenen russischen Erde, in das wir in diesem Winter noch so manchen von uns hineinlegen sollten, - ins Leben hinein ging dieser harte Weg, das stand nun fest, weil Weihnachten galt; das konnte uns nicht mehr genommen werden, das ließ uns tief aufatmen."