Rezension H.Thyen

Hartwig Thyen,

Das Johannesevangelium
Handbuch zum Neuen Testament Bd. 6, Tübingen 2005

 

Rezension von Günter Reim

in: Korrespondenzblatt hrsg. vom Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der evang.-luth. Kirche in Bayern 1, 2008

 

BULTMANN ade !?

Der 796 Seiten lange Johanneskommentar des Bultmann-Schülers H. Thyen hat mit dem 1941 erschienenen Johanneskommentar Bultmanns wenig gemeinsam. Beide Kommen-tare wollen Wissenschaftler und Studenten ansprechen. Alte und neue Sprachen muss man kennen. Aber, was für Bultmann und viele nach ihm wichtig für die Erklärung des Vierten Evangeliums war – die Gnosis, die Redenquelle, die Umstel-lungsversuche, Literarkritik – spielt für Thyen keine Rolle mehr. Er kommentiert das Evangelium von 1,1 bis 21,25 in der vorgegebenen Reihenfolge als das Werk eines einzelnen Schriftstellers. „Da es nicht unser Ziel ist, die vermeintliche Genese des Evangeliums aufzuklären, sondern seinen überlieferten Text zu begreifen...“

Dabei hatte Thyen – wie Segovia – einmal anders begonnen: „Beide versprachen wir uns einst eine Lösung des vermeintlichen Rätsels des Johannesevangeliums von der konsequenten Anwendung der traditionell analytischen Methoden und zumal von der Literarkritik im Verein mit redaktionsgeschichtlichem Schwerpunkt. Doch immer wieder entzog sich der Text solchen Versuchen, ihn zu vergewaltigen, und nötigte zu integrativeren Verfahren.“ In seinem Beitrag „Entwicklungen innerhalb der johanneischen Theologie...“ (s. Literaturverzeichnis) war sich Thyen noch über Interpolationen im Johannesevangelium „fast sicher“. Nun aber schreibt er im Kommentar S. 139:
„Im  Gegensatz  zu  solcher  vorschnellen   ‚Sicherheit’  bin   ich mittlerweile jedoch ‚fast sicher’, dass weder eine vermeintliche Grundschrift unseres Evs noch seine mutmaßliche Semeia-Quelle jemals mit einer für deren Interpretation zureichenden Verlässlichkeit rekonstruiert werden kann. Darum wiederhole ich hier meinen damaligen Vorschlag, nicht länger den Autor irgendeiner Schicht des Evs, sondern denjenigen seinen Evangelisten zu nennen, dem wir unser überliefertes Johannes-evangelium (einschließlich seines 21. Kapitels!) verdanken...“ (Interessierte sollten hier weiterlesen).

Herausgekommen ist nach der großen Wende Thyens (vgl. S. 151, 582, 773) ein gelehrter Kommentar, der die große Belesenheit seines Autors im Bereich der internationalen Johannesforschung aufweist. 54 Seiten kleingedrucktes Litera-turverzeichnis zeigen die umfassende Kenntnis Thyens, und man weiß aus seinen Berichten über johanneische Literatur in der ThR ab 1974, dass in seinem Literaturfundus noch viel mehr enthalten ist – auch wenn eine Vollständigkeit, johanneische Literatur zu kennen und zu verarbeiten, nicht zu erreichen ist.

Mit einem Autoren-, Stellen- und Sachregister würde man sich bei einer Rezension und beim Arbeiten mit dem Kommentar leichter tun. Die vielen zitierten Autoren findet man – leider ohne Hervorhebung – im laufenden Text, weil es keine Anmerkungen gibt.

(Die vielen Fehler sollten bei einer nächsten Auflage beseitigt sein!)

Ein kurzer Blick auf wenige Kommentare vor Thyen

In den letzten Jahren sind ja viele Kommentare zum 4. Evangelium erschienen. Ihre Schwerpunkte waren unter-schiedlich. J. Blank hatte neben wissenschaftlicher Information besonders die Meditation von Texten im Auge. R. Schnackenburg erstellte ein großes Werk mit ausführlichen Einlei-tungsfragen, Exkursen, Literaturverzeichnis und Anmerkungen, ein Werk, in dem auch Textumstellungen diskutiert wurden. J. Becker hat die Versuche, Redaktoren aufzuweisen, in extremer Weise und wenig glaubhaft durchgeführt, aber auch wichtige Interpretationen gebracht. K. Wengst wollte besonders den rabbinischen Hintergrund aufzeigen und sich mit dem Problem des Antisemitismus im Johannesevangelium und in der Geschichte seiner Auslegung beschäftigen, ohne Einleitungsfragen und Umstellungshypothesen zu diskutieren. Allerdings spielt in seiner Auslegung der sozialgeschichtliche Hintergrund des Evangeliums eine wichtige Rolle. Chr. Dietz-felbinger hat neben einer gediegenen Auslegung immer wieder Hinweise auf die Wirkung des Johannesevangeliums in Literatur und Musik. Im Hintergrund der Auslegung Thyens steht jedoch durchgehend die Auseinandersetzung mit der Position Bultmanns und derer, die mit einer „Schere und Kleister“ - Methode dem Evangelium geschadet haben, statt es „dem Leser“ mit Hilfe von „Spiel“ und „Intertextualität“ nahe zu bringen.

Die Rede von „Spiel“ und „Intertextualität“

Für Th. (S. 11 und 509) besteht das Johev aus zwei Büchern – das Buch des Zeugnisses (1,19-10,42) und das Buch der Doxa Jesu (11,1-21,25). Das Ganze ist als historisches Drama Jesu zu verstehen mit Akten und Szenen, mit Prolog und Epilog. Das Drama zeigt einen großen Prozess zwischen Gott und der Welt (S. 76). Auf die für Johannes vorbildhafte Prozessstruktur aus Deuterojesaja kommt Th. jedoch nicht zu sprechen, obwohl das wichtig wäre.

Ein anderer Prozess soll sich jedoch zwischen dem Evangelium und dem Leser ereignen. Die Leser kennen nach Meinung Thyens alle drei Synoptiker (S.113, 117, 180). Deswegen kann und soll der „Modell-Leser“ zwischen den vier Texten spielen – „Ist wie“ – „Ist“ – „Ist nicht“. Dieses Spiel, dieser Prozess kommt bei Th. immer dann zum Zuge, wo seine „Schere und Kleister“ – Exegeten von Tradition und Redaktion, Grundevan-gelium, Wunderquelle... – sprechen. Der durch seine intensive Kenntnis des AT und der Synoptiker „intertextuell“ beschlagene Leser jedoch profitiert von  dem  Spiel,  das  Johannes  ihm mit seinem Evangelium bereitet (zur „Intertextualität“ vgl. z.B. S. 101, 335, 480, 586, 752).

Zur Intertextualität: „...anders als die traditionellen Methoden von Form-, Redaktions-, Traditions- oder Religionsgeschichte begreift sie ‚Texte’ nicht als unabhängige und in sich selbst ruhende Einheiten, sondern als Teile eines Netzwerkes von Texten, das prinzipiell unbegrenzt ist...Vielmehr verändert sich die traditionell eher passive Rolle des Lesers dadurch nicht unerheblich, dass er sich nun vor die Aufgabe gestellt sieht, die Bedeutung von Texten in dem „Zwischen“ (inter) wahrzunehmen, das ihm das Spiel des Autors mit anderen Texten eröffnet...“.

Absagen an Tradition und Redaktion

Bultmann und Becker, Schnackenburg und das Heer der anderen, die sich mit Tradition und Redaktion, mit Literarkritik, mit Quellen... beschäftigt haben, finden bei Thyen nach seiner Wende kein Gehör mehr. Ein vorjohanneische Passionsbericht wird als „Chimäre“ betrachtet (S. 561), Literarkritik als „Moloch“, dem geopfert wird (S. 317), die ‚Semeia-Quelle’ als „Phantom“. Abgelehnt werden die Arbeiten derer, die durch die Unterscheidung von Tradition und Redaktion die Geschichte einer „johanneischen Gemeinde“ zu rekonstruieren versucht haben. Genannt werden u.a. Martyn, Fortna. Abgelehnt wird die These eines (vorjohanneischen) Grundevangeliums (S. 386 – Wellhausen, W. Wilckens).

Thyens Aussagen zum AT-Hintergrund des Johannesevangeliums

Der große Unterschied zu Bultmann besteht auch in Thyens häufigem Bezug auf das AT, mit dessen Aussagen der Evangelist spielt. Th. spricht mit großem Recht von dem „tiefen Verwurzeltsein unseres Evangeliums im Alten Testament und seiner jüdischen Auslegungsgeschichte“ und von der „prominenten Rolle des Jesajabuches“ (S.209). Auch die Theophanien (S. 310) besonders des Pentateuch „bestreitet Johannes nicht,“ sondern er will sie als "Christophanien" begriffen sehen. Ich stimme dieser Aussage voll zu. Auch die besondere Bedeutung von Texten aus Sach. 9-14 stellt Th. heraus (S. 399, 484, 676).

Aus meiner Sicht wird jedoch die wichtige Bedeutung von Jes 6 für die Auffassung Jesu als Gesandter im Johev, die Bedeutung von Ps 45 für die Darstellung Jesu als König und die Verwendung von Jes 28,16 für die johanneischen Aussagen von glauben und leben und Ps 95 für das Hören der Stimme heute/nun nicht gesehen – und das zum Schaden der gesamten Auslegung.

Tora, Tempel, Feste

Zuerst muss die mir sympathische Haltung Thyens gegenüber Antisemitismus genannt werden. Die Rede Jesu von „eurem Gesetz“ bedeutet für Th. keinerlei (christliche) Distanzierung von der Tora der Juden (S. 424), und im Anschluss an Augensteins Beitrag „Jesus und das Gesetz im Johannesevangelium sagt Th., dass von einer Abrogation der Tora bei Johannes nirgendwo die Rede ist (S. 634). „Darum gibt es für einen Streit zwischen Judenchristen und Heidenchristen um die Verbindlichkeit von Gottes Gesetz im gesamten Evangelium keinerlei Indiz...“ (S. 739). Jesus wird von Johannes absichtsvoll als toratreuer Jude gezeichnet (S. 390, 169f). Th. sagt im Hinblick auf Beckers andere Meinung zu Joh 2,13-22: „...eine Distanz Jesu zu Tempel und Tempelkult sowie zur Tora und zum jüdischen Festkalender zu konstruieren und Jesus die Tempelfeste nur als willkommene Gelegenheit der Auseinandersetzung mit „den Juden benutzen“ zu lassen“ kann aus Joh 2 nicht gefolgert werden.

Aus den vielen Aussagen im Johannesevangelium über die Verbindung von ‚glauben’ und ‚leben in Ewigkeit’ im Gegensatz zur Herleitung dieses Lebens aus dem Halten des Gesetzes ersehe ich auch keine grundsätzliche Distanzierung vom Gesetz, aber das Angebot einer neuen Möglichkeit durch Gottes Handeln in Christus her, die das Gesetz neu interpretiert. Es geht bei Johannes auch nicht gegen den Tempel, sondern um das Angebot einer neuen Möglichkeit durch Gottes Handeln in Christus, der in eigener Entscheidung seinen Leib-Tempel abbrechen lässt und deshalb vom Aufbau eines Tempels sprechen kann, der den alten neu interpretiert.

Verbindungslinien zum übrigen NT

Vom übrigen NT außer den Synoptikern und dem 1. Johannesbrief kommt bei Thyen kaum etwas vor. „Die konkrete Kenntnis unserer synoptischen Evangelien – und zwar aller drei“ wird von Th. angenommen (S. 76) „Wir haben ...das Verhältnis des vierten zu den drei älteren Evangelien unter dem Gesichtspunkt ihrer Intertextualität behandelt und die letzteren deshalb als die Prätexte bezeichnet, die durch den neuen Text nicht etwa abgelöst oder gar verdrängt werden sollen..., sondern vom neuen Text vielmehr in ihrer Geltung vorausgesetzt werden. Dass darum gerade das Spiel mit ihnen, das ‚Zwischen’ der Intertextualität also, die Pointe des neuen Textes ist...“

Den ersten Johannesbrief sieht Th. als ältesten Kommentar zum Johannesevangelium (S. 610f, vgl. weiter: 87, 96, 435, 701, 751). „Danach ist die Situation in den Johannesbriefen wohl die, dass sich jüdische Christen von ihrem messianischen Bekenntnis zu Jesus abgewendet haben und weitere ihnen darin zu folgen drohen.“ (S.612) Ob die zeitliche Ansetzung der Johannesbriefe vor dem Evangelium durch Schnelle ein „Geniestreich“ ist (S.752), halte ich für nicht ausgemacht.

Leider fehlt in Th.s Kommentar der Hinweis auf die 3 alttestamentlichen Bezüge, die das Johannesevangelium mit dem Hebräerbrief gemeinsam hat: Ps 45, Ps 95 und LXX Ps 39 (BH 40). Dadurch sind wesentliche Aspekte für das Verständnis Jesu und seines Werkes durch Johannes nicht aufgezeigt. (vgl. dazu meine Aufsätze in: www.evangelium-johannes.de/für Wissenschaftler/Aufsätze. Mein Aufsatz zu Justin zeigt, dass Justin nicht das Johannesevangelium kennt, sondern nur wichtige Paralleltraditionen.)

Der geliebte Jünger

Das im syrisch-palästinensischen Raum (S. 1) Ende des 1. Jhd. (S. 169) entstandene Evangelium stammt „Wort für Wort aus der Feder des Evangelisten“ (S. 406). Dem stimme ich zu und würde fortfahren: ...der alle im Evangelium vorhandenen Quellen und Traditionen selbst in zwei Stadien in sein Evangelium eingearbeitet hat. Nach Th. ist der geliebte Jünger eine „fiktionale Gestalt“ (S. 277) Er ist das literarische Geschöpf des wirklichen Evangelisten, der seine Anonymität für immer hinter dieser Figur verborgen hat...“(S. 295 vgl. weiter S. 361, 373, 378, 597, 759, 782, 791, 794). Ich widerspreche dieser Meinung vehement.

Was gewinnt man durch die Kommentierungsweise Thyens?

Durch den Anstoß der immer wieder betonten „Intertextualität“ kann sich der Leser in das von Thyen gesehene Spiel des Evangelisten hineinziehen lassen ohne durch Fragen nach Tradition und Redaktion usw. belästigt zu werden. Der Leser muss allerdings verschiedener Sprachen mächtig sein, Interesse für viele Abschnitte mit Textkritik mitbringen und sich von den vielen meist sehr kurz nur zitierten Autorinnen und Autoren zur Weiterarbeit anregen lassen. Spiel vom Evangelisten, Arbeitsvorgaben vom Kommentator! Letzteres für Professoren der Exegese mit ihrer weiten Intertextualität (k)eine Kleinigkeit, für Pfarrer vor einer Predigt sehr fordernd, für Studenten guter und harter Ausgangspunkt eigener Forschung und Meinungsbildung. Es lohnt sich!

Was verliert man durch das Aufgeben genauen Fragens nach Tradition und Redaktion

> Wenn es wirklich gegen Thyens Überzeugung einen Augenzeugen gegeben hat, dessen Aufzeichnungen in Form eines kleinen alten (schon vor ihm überarbeiteten) Evangeliums Eingang in das Werk des Evangelisten von Joh 1,1-21,25 gefunden haben – und dafür spricht sehr viel -,
> wenn der Evangelist nicht nur für in AT- und NT-Intertextualität versierte Leser Spielanleitungen gegeben hat, sondern selber nicht die Synoptiker gekannt hat,
> wenn nicht der anonyme Leser, sondern eine bestimmte Gemeinschaft in bestimmter und bestimmbarer schwerer Situation des Ausgestoßen-Werdens von der Größe der Christuszuwendung angesprochen werden soll,
> wenn der geliebte Jünger keine fiktionale Gestalt ist, sondern mit seinem uralten, wenn auch überarbeiteten Zeugnis vom Evangelisten mit großer Ehrfurcht ins Evangelium aufgenommen worden ist –
>>> wenn, wenn, wenn, dann muss die Frage nach Tradition und Redaktion und geschichtlich/sozialer Situation weiterverhandelt werden. Der Evangelist und der Leser in der Sicht Thyens würden zu Gestalten aus Fleisch und Blut werden und mich mit der aus dem Evangelium erkennbaren Situation persönlich mehr ansprechen als eine pseudonyme Gestalt eines Evangelisten und ein konturenloser Leser mit (verschwommener) Intertextualität.

Bultmann, Ade!?

Bultmann wird oft zitiert. Da gibt es „viel Bedenkenswertes“ (S. 475) in seinem „epochalen Kommentar“ (S. 217), aber auch harsche Kritik (S. 518f) und Ablehnung der „literarkritischen Amputationen“ (S. 696). Ich denke, wenn Bultmann Thyens Kommentar hätte lesen können, hätte er wohl bei „Spiel“ und „Intertextualität“ nicht nur zustimmend schmunzeln können, sondern – in vieler Hinsicht mit Recht – hart dagegengehalten. Ausrufezeichen und Fragezeichen hinter der Überschrift über diese Rezension – „Bultmann, Ade“!? haben gleiches Recht.

Thyens Kommentar – ein guter, interessanter, wenn auch mich oft zum Widerspruch einladender Kommentar eines belesenen Bultmann-Schülers.