Meditation 4 zu Käthe Kollwitz:
Begegnung
(Maria und Elisabeth)
(Bayer.) Evang. Gesangbuch S. 576
Sämtliche Bilder, ihre Beschreibungen und dazugehörige Meditationen finden Sie in: "Die Bilder im Gesangbuch. Beschreibung - Kontext - Zugänge" 1995 ISBN 3-87214-267-4
Kontext
Im Leben der Käthe Kollwitz ist - wie im Bild - das Dunkel vorherrschend, oder besser: Sie hält sich mit ihrer Kunst mehr zu den Niedrigen als zu den Hohen. Also zu den Frauen, besonders den Arbeiterfrauen, zu denen, die rechtlos, aber nicht machtlos sind. Sie ist stark interessiert an Menschen, die sich gegen ihre todbringende Situation aufbäumen. So beschäftigt sie sich künstlerisch mit Weberaufstand, Bauernkrieg, französischer Revolution und immer wieder mit den Opfern von Krieg, Hunger und Elend. Im Zentrum ihrer Gefühle, die Ausdruck finden müssen und nach Änderung von Notsituationen schreien müssen, steht der Tod ihres als Kriegsfreiwilligem gefallenen Sohnes. Blätter aus der Holzschnittfolge Der Krieg· haben als Titel: Das Opfer·, Die Freiwilligen·, die Witwe·, Die Mütter·, Das Volk·.
Sie schreibt: "Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind."
Ihr letztes Werk: Eine Lithographie nach den Worten Goethes: "Saatfrüchte" - (Saatfrucht war ja ihr gefallener Sohn) - "Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden."
Erschließung
Eine traurige Zärtlichkeit liegt in diesem Bild. Dabei handelt es sich doch um eine Begegnung, von der im Neuen Testament berichtet wird, dass das Kind der einen, der Elisabeth, im Leibe vor Freude hüpfte, als es dem Kind der anderen, dem Messias, begegnete. Wo ist diese Freude bei dem Holzschnitt der Käthe Kollwitz geblieben? Wo ist die Freude geblieben bei Frauen, die sich begegnen und sehen, dass beide ein Kind austragen?
Das Motiv der sich begegnenden, schwangeren Frauen ist oft gemalt worden. Wir wissen, dass Käthe Kollwitz von einem bestimmten Gemälde zu ihrer Arbeit angeregt worden ist:
Als die Malerin das damalige Kaiser-Friedrich Museum besuchte, hat ein Bild von Konrad Witz aus dem 15. Jahrhundert sie sehr beeindruckt: Der Ratschluss der Erlösung·. Auf diesem Bild werden Maria und Elisabeth nur am Rande gezeigt, hoheitsvoll, mit Abstand voneinander, köstlich gekleidet.
Sechs Jahre hat das Motiv dieser Begegnung dann in Käthe Kollwitz geruht, gearbeitet, wurde auf dem Hintergrund des Verlustes des eigenen Sohnes im 1. Weltkrieg empfunden, vertieft, wurde in Verbindung gebracht mit dem schweren Leben von Frauen und Kindern in den zwanziger Jahren, mit Entbehrung, Hunger und Tod. Schließlich, nach diesen sechs Jahren der Vorbereitung, muss sie den Jüngeren ihre Botschaft sagen, ihre Erfahrung weitergeben. Und in ihrem Holzschnitt dominiert nicht mehr Hoheit und Begegnung zweier Frauen mit dem notwendigen Abstand - wie im Bild von etwa 1440 - jetzt dominiert die Nähe: Die vierte Hand ist am Hals zu sehen, zart heranziehend. Die Ältere der beiden hat nun etwas weiterzugeben in hingegebenem, flüsternden Reden, das fast zum Kuss wird und dem hingegebenes Hören Marias entspricht. Das äußerliche Sehen wird abgeschaltet, das innere aktiviert.
Man bekommt den Eindruck, dass all das Schwere im Leben einer Frau weitergegeben werden muss, aber nicht nur als Belastung, die zu schwer ist, sondern als etwas, was ertragen werden kann, vielleicht geändert werden kann, vielleicht durch politisches Handeln geändert werden muss, wie das Leben von Käthe Kollwitz mit ihrem Protest gegen Hunger und Krieg zeigt.
Beide Mütter lassen etwas vom bevorstehenden Tod ihrer Söhne Johannes und Jesus ahnen: Um die Frauen breitet sich die Grabeshöhle aus. Von dem Ratschluss der Erlösung aus dem Bild von 1440 ist nichts mehr zu sehen, nichts von dem "all unsre Not zum End er bringt". Im Falle Johannes des Täufers und Jesu werden die Mächtigen, Herodes und Pilatus, eingreifen, und die Mütter der beiden Ermordeten werden sich neu begegnen müssen, um dem Rätsel der Erlösung beizukommen. Rätselvoll hatte Jesus, der Sohn der Maria, ja gesprochen: "Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."
Ahnen das die beiden Frauen der Käthe Kollwitz schon, dass sie sich auf den anderen Frieden vorbereiten müssen, der kommen wird und für dessen Kommen man ein unerschrockenes und furchtloses Herz haben muss?