Lesung am Beginn des neuen Lesungsjahres, Bereschith (Im Anfang): Gen 1,1-6,9 und Jesa. 42,6-22
Anweisung, wie an allen Sabbaten und hohen Festtagen in den jüdischen Synagogen (Schulen) das Gesetz des Mose und die Propheten gelesen werden
Wenn man das Johannesevangelium in seiner Endgestalt etwa um 90 n. Chr. ansetzt, dann gab es natürlich längst einen neuen christlichen Gottesdienst, der sich zusätzlich zum Synagogengottesdienst entwickelt hatte: In christlichen Häusern feierte man das Abendmahl, erzählte sich von Jesus, diskutierte über die Auslegung des Alten Testamentes, betete und sang. Aber der wesentliche Schritt zu einem neuen Gottesdienst war dann doch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 mit dem Ende der Tempelopfer und - gottesdienste und die Vertreibung der Christen aus der Synagoge durch die Erweiterung des 18-Bitten-Gebets mit einer Einfügung gegen die Anhänger des Nazareners.
Der alte Ort, den man am Sabbat besuchen konnte mit seinen gewohnten Lesungen aus dem Alten Testament, den Erklärungen dazu und den Gebeten, war für Christen nicht mehr zugänglich. So war es notwendig, dass ein zweiter Teil des neuen christlichen Gottesdienstes entstand.
Die Zerstörung des jüdischen Tempels, aber auch die schon längst erfolgte Zerstörung des Tempels der Samaritaner auf dem Garizim deuteten für Christen darauf hin, dass es einen neuen Gottesdienst geben werde, nicht mehr an einen Tempelplatz gebunden, den Samaritaner und Juden in ihrer Feindschaft gegenseitig infragestellen konnten. Der neue Gottesdienst ist U-topie: Er kommt ohne einen bestimmten geheiligten Ort aus und geschieht in der Messiaszeit durch die wahren Anbeter im Geist und in der Wahrheit - 4,23. Natürlich geschah auch das Gegenteil von U-topie: Der Tempel, durch Salomo zur Zentrierung der verschiedensten Gottesdienste im Lande einst gedacht, mit der gleichzeitig angestrebten Aufhebung aller kleinen Tempel im Lande, dieser Tempel macht mit seiner Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. die Dezentralisierung auch für Christen möglich: Sie werden an allen Orten Gott in Geist und Wahrheit anbeten, besonders an den kleinen Orten der bisherigen Abendmahlsfeiern: in den Privathäusern.
Die Haupttradition aus der Synagoge wird übernommen: Das jüdische Lesungsjahr, die Verlesung der 5 Bücher Mose, der Thora - gekoppelt mit dem Lesen von Prophetenabschnitten, das Singen von Psalmen. Dazu kommt die Jesus - Erzählung.
Bei Johannes ist uns ein einwandfreies Beispiel für die Übernahme dieser Tradition in Joh 9, der Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat, gegeben: Am ersten Tag des Lesungsjahres verliest man die auch in der Synagoge bis zum heutigen Tage weiter gültigen Lesungen aus der Thora - 1. Mose 1 - und den Propheten - Jes 42 - und zeigt im Anschluss daran die Erfüllung in Christus:
Was vom "Anfang" (Gen 1,1 = Thoralesung) der Welt nicht geschehen war, -
die Öffnung der Augen eines Blindgeborenen (Jes 42 = Prophetenlesung), - das geschieht an jenem besonderen Sabbat
durch Jesus, dem "Licht" der Welt (= Jesuserzählung) -
und ein Mensch kommt anbetend zum Glauben an Jesus in Erfüllung des Alten Testamentes (1. Mose 49,8-12 / Joh 9,35-38).
Ähnlich werden wir uns christliche Gottesdienste an den weiteren Sabbaten oder dann Sonntagen zu denken haben:
Das Alte Testament - Thora und Propheten - werden vom Geschehen in Jesus Christus her gedeutet,
also, Beispiel 2 : Wenn die Geschichte von der Schlange in der Wüste aus der Thora - 4. Mose 21,4ff - verlesen wird, wird der Prophetenabschnitt von der Erhöhung und Verherrlichung des Menschensohnes - Jes 52,13ff - verlesen und von der Kreuzigung Jesu erzählt. Oder, Beispiel 3: Wenn von der Speisung mit Manna - 2. Mose 16 - gelesen wird, folgt aus den Propheten - Jes 54,13, dass "alle von Gott gelehrt sein" werden. Dann wird von dieser Lehre für alle durch Jesus erzählt und von der Aufgabe, diese Lehre für alle in der Welt zu verbreiten. Der Geist schließt der Gemeinde das Alte Testament auf und führt sie in die Wahrheit. Beispiel 4: Wenn aus der Thora davon gelesen wird, dass jeder Mensch, der die Gesetze des Mose tut, dadurch leben wird,- 3. Mose 18,5 - so folgt als Prophetenlesung Jes 28,16 - vom durch Gott auf dem Zion gelegten köstlichen Eckstein, dem Messias, und dass der nicht zuschanden wird, sondern lebt, der an ihn glaubt. Dann wird von Jesus als diesem Stein erzählt, von den Menschen verworfen, von Gott zum Eckstein gemacht, bei dem man ewiges Leben findet. Im Johannesevangelium finden sich eine ganze Reihe solcher möglicher Lesungskombinationen aus Thora, Propheten und Jesus-Erzählung. Die "Predigten" setzten immer beim Alten Testament an, auch wenn man - wie in Joh 10 - vom Guten Hirten sprach oder - wie in Joh 15 - vom Weinstock und den Reben. Die Gemeinde empfindet wie Petrus diese Wortfolge "Thora, Propheten, Jesus-Erzählung" als "Worte des ewigen Lebens". Manchen aber sind diese Auslegungen äußerst anstößig - vgl. 6,41 6,52 6,60 - und sie verlassen die Gemeinde.
Sicher wird im neuen Gottesdienst gesungen. Viele Forscher vermuten ein altes Lied in 1,1-18 mit einzelnen Strophen:
Im Anfang war das Wort
und das Wort war bei Gott...
Ich denke, dass auch Ps 95 von Christen gesungen wird am Anfang ihrer Gottesdienste, so wie dieser Psalm auch heute den Sabbatgottesdienst bestimmt.
Die jüdischen Feste werden sicher von johanneischen Christen weitgehend beibehalten - aber sie werden jetzt zu Christusfesten - Christus das Passalamm, Christus beim Laubhüttenfest das Wasser des Lebens in Anknüpfung an das Wasserschöpfen im Teich Siloah - 9,7. Das Tempelweihefest - nun ein Fest der Anbetung im Geist und in der Wahrheit, bei dem auf einen Tempel verzichtet werden kann.
Aber auch der Alltag des Christen wird im Gottesdienst nicht zu kurz kommen, der Alltag des Flüchtlings: Er erhält im neuen Gottesdienst Verständnishilfen, weshalb er denn von einigen Juden gehasst wird - vgl Ps 69,5 ("sie hassen mich ohne Ursache"). Er lernt seine Situation als etwas vorübergehend Schweres verstehen, so wie eine Frau zuerst Geburtswehen haben muss. Christen werden weinen und heulen, während andere lachen. Aber nach der Geburt des Kindes freut sich die Frau mit großer Freude. Christen lernen im Gottesdienst, auf diese große Freude zu hoffen. Man spricht miteinander über das eine einzige neue Gesetz, die Liebe. Sie ist für die johanneische Gemeinde Bruderliebe - der Bezug der Liebe auf den Feind fehlt - wohl wegen des Abbruches der möglichen Kontakte mit Juden der Synagoge unmittelbar nach dem Ausschluss der Christen.
Das alles kommt im neuen Gottesdienst Teil II zum ersten Teil, zur Abendmahlsfeier, zum Gebet, zur Christuserinnerung dazu, als die Gemeinde den Tempel und die Synagoge verlassen hat. Die Ortslosigkeit - die Utopie, erweist sich als kreativ, als Verlebendigung, zu der es keine wirkliche Alternative mehr gibt - es sei denn, dass man "hinter sich geht" - Joh 6,66 - hinter seine eigentliche Erkenntnis vom Leben zurück.
Aus der Literatur
Bella Chagall: Brennende Lichter, Rowohlt-Verlag
"Fröhlich gehe ich ins Haus und bleibe mitten in der Tür stehen. Ist jemand gestorben? Warum weinen sie? Warum hat Mama mich heimrufen lassen? Ich bin aus heiterem Himmel in eine finstere Gruft gefallen. Da stehe ich nun, sehe Mama an, die mit gesenktem Kopf am Tisch sitzt und ein Klagelied liest. Ohne aufzuschauen, weint sie vor sich hin. Das lange weiße Tischtuch liegt wie ein Toter auf dem Tisch. Im Leuchter schwelen heruntergebrannte Kerzen, Gebetbücher liegen daneben. Vater steht nahe dabei, und ich bemerke sogleich seine weißen Socken. Mir wird weh ums Herz. O Gott! Warum ist alles so grau, so schwarz? Draußen ist Sommer und die Sonne scheint. Bei den Christen laufen die Erwachsenen und die Kinder herum und lachen. Und hier? Vater und Mutter sitzen auf niederen Bänken wie auf Steinen und wehklagen und trauern. Sie sind selber wie Steine, versteinert. Sie vergießen Tränen, als wollten sie Steine erweichen. Der Fussboden ist mit Staub und Asche bedeckt. Welche Sünde haben meine Eltern begangen, dass sie solchermaßen zu Gott beten müssen? Welches Unglück beklagen sie? Mein Bruder Mendel sagt traurig zu mir:
<Wir haben unseren Tempel verloren. Er ist niedergebrannt, zerstört, das Land verwüstet worden. Es ist Tischa be Aw>.