Der hebräische Text von Jes 6 hat sich aus folgenden Gründen für Juden und christliche Juden für unterschiedliche Interpretationen angeboten:
a) Der Bezug auf Gott wird mit verschiedenen Namen ausgedrückt. Die LXX löst das Problem einfach, indem sie in V.1-11 immer (gr.) kyrios gebraucht. Nachdem jedoch in den Zeiten der notwendigen targumischen Bearbeitung des hebräischen Textes anthropomorphe Beschreibung Gottes abgelehnt wurde, konnte man neu interpretieren und die dem Menschen zugewandte Seite Gottes „Herrlichkeit Gottes“ nennen (TG zu Jes 6,1) oder „Herrlichkeit der Schechina der Welten“ (Stenning übersetzt: „...for the glory of the Shekinah of the King of ages, the Lord of hosts, have mine eyes seen.“) - und die Jenseitigkeit der anderen Seite Gottes blieb gewahrt.
b) Auch die LXX lässt Überlegungen gegen die anthropomorphe Beschreibung Gottes erkennen, indem sie in Jes 6,1 nicht vom „Gewandsaum“ Gottes, sondern von der „Herrlichkeit des Herrn“ spricht, die den Raum erfüllt. Der TG spricht nach der Übersetzung von B. Chilton an dieser Stelle: „And the temple was filled by the brilliance of his glory.“ TG und LXX haben gemeinsam, dass sie den Begriff der „Herrlichkeit“ in ihre Betrachtung von Jes 6 einführen - eine Auslegungsweise, die auch Johannes (aus der Semeia-Quelle?) aufgenommen und in 12,41 auf Jesus bezogen hat: (gr.)tauta eipen Esaias hoti eiden taen doxan autou (kai elalaesen peri autou)
c) Dadurch ergibt sich im Hinblick auf Joh 12,41 folgende Frage: Was alles hat Jesaja von „ihm“ (für Johannes = „Jesus“) „geredet“ und mit welchen Worten? Betrifft das Reden von „ihm“ nur die „Herrlichkeit“ von Jes 6,1-5 oder ist von „ihm“ auch in den weiteren Versen von Jes 6 die Rede? Hat Johannes auch das Wort „König“ in Jes 6,5 auf Jesus bezogen, vgl z.B. Joh 18,36f? - Gott selbst wird ja im Johannesevangelium nie „König“ genannt.
d) Offen war der hebräische Text von Jes 6 auch bei der Vokalisierung von V.10. Muss ich lesen: „Er hat verblendet“ und „er hat verstockt“ und somit diese Aktion auf Gott beziehen als eine in der Gegenwart des Propheten schon abgeschlossene oder ist das die bevorstehende Aufgabe des Propheten und ich muss vokalisieren: „Verblende!“ und „Verstocke!“? Oder betrifft die ganze Vision überhaupt eine ferne Zukunft, in der der Messias da ist?
e) Offen ist Jes 6 gleichfalls für die Frage, ob Heilung absolut unmöglich ist oder als eigentliches Ziel vor der möglicherweise notwendigen Verstockung zu sehen ist.
f) Auch der Text der LXX in Jes 6,8 -(gr.)idou eimi ego,- konnte zu Überlegungen über den Zusammenhang mit dem (gr.)ego eimi des Deuterojesaja einladen. Ob Johannes so überlegt hat, dass der Gesandte aus Jes 6,8 der (gr.)ego eimi von Dtjes ist, ist also eine weitere Möglichkeit.[9]
Ohne alle Möglichkeiten verschiedener Interpretationen von Jes 6 aufzeigen zu wollen und zu können, wollte ich doch den Reichtum der Interpretationsmöglichkeiten ansprechen und so Johannes oder den ihm durch andere bekannten Jesajatext in diese Auslegungstradition einreihen und auch zeigen, dass seine Interpretation von jüdischen Gesprächspartnern und Schriftgelehrten ernst genommen werden musste, weil sie im Bereich jüdischer Interpretationsmöglichkeiten lag.