Rezension M.Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch. Mit einem Beitrag zur Apokalypse von Jörg Frey

Martin Hengel,

Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch.

Mit einem Beitrag zur Apokalypse von Jörg Frey WUNT 67, Tübingen, J. C. B. Mohr 1993, XIV u. 482 S.

 

Rezension von G. Reim
in: Biblische Zeitschrift, Heft 1/1994,

Das exzellent gearbeitete und gedruckte Buch enthält die Arbeiten des ‚Schulhauptes’ Martin Hengel zu den Johannesbriefen und dem Johannesevangelium auf 325 Seiten und des ‚Schülers’ Jörg Frey zur Johannes-Apokalypse auf 103 Seiten. Dazu kommt, für beide geltend, ein ausgezeichnetes Register auf 53 Seiten.
Die Bedeutung der Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler sieht man auf Schritt und Tritt: Beide haben sich mit ihren Ergebnissen und auf dem Weg dazu stark beeinflusst. H. hat unter dem Gewicht der Nachweise F.s seine Meinung aufgegeben, dass der Autor des Evangeliums auch der der Apokalypse war. F. wiederum schließt sich der Hypothese H.s von der Autorschaft des ephesinischen Johannes für Evangelium und Briefe an und verweist immer wieder – aus dem Register nicht erkenntlich – auf seinen Meister.

H.s Beitrag ist aus einem 1984 gehaltenen Seminar über Jahre hinweg erwachsen. Der Autor betont durchweg sein Interesse an der vernachlässigten historischen Erforschung der Bezeugung des Corpus Johanneum im 2./3. J. und seine großen Zweifel an den literarkritischen Fähigkeiten und ‚Ergebnissen’ seiner Kollegen in der Welt im Bereich der joh Frage. Neben Bultmann werden vor allem J. Becker, R. E. Brown und K.Wengst genannt. Auch R. T. Fortna und J. L. Martyn werden kritisiert, in der Datierungsfrage des Johannesevangeliums besonders W. Schmithals. H.s Buch ist so auch ein oft scharfes Gegenbuch, Reaktion auf weit über 50 Jahre literarkritischer Operationen am Patienten Johannesevangelium, ein Gegenbuch auch gegen diejenigen, die die Entstehung des Evangeliums wie K. Wengst nach dem jenseits des Jordan gelegene Syrien verlegen und die Gegenwartsbezogenheit von Aussagen aus dem Johannesevangelium im aktuellen Gegenüber zu den Juden sehen. H. hat schließlich ein Gegenbuch gegen jene geschrieben, die mehrere Verfasser für das Evangelium und die Johannesbriefe postuliert haben.

Seine eigenen Ergebnisse hat H. als „nicht mehr als ein Lösungsversuch“ bezeichnet. Er bringt nicht sehr viel, was wirklich neu ist, und verweist auf ein van Unnik zugeschriebenes Wort: „In New Testament scholarship what is true is not new and what is new is not true.“ Was dann an historischen Kenntnissen ausgebreitet wird, belegt durch einen eindrucksvollen Fußnotenbereich, wird nicht nur R. Schnak-kenburg erfreuen, der in seinem Kommentar für die Bedeutung des Johannesevangeliums in Geschichte und Leben der Kirche viele Einzeluntersuchungen vermisst hat. Bei H. ist nun manches bedacht. Nach einem Vorwort entwickelt er in fünf Kapiteln seine Sicht der joh Frage. Seine großen Meister sind u. a. A. v. Harnack, W. Bousset, seine für ihn so wichtigen Gewährsleute für Wortstatistik u. ä. R. Morgenthaler, E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg.

Ungern hat sich H. – das scheint an einigen Stellen durch – von seiner Idee getrennt, Evangelium, Briefe und Apokalypse einem einzigen Verfasser zuzuschreiben. Diese Trennung ist ihm durch seinen Schüler Frey leichter gemacht worden, der in einem Appendix klar aufweist, dass die Apk nicht vom Schreiber des Evangeliums stammen kann. So steht als Ergebnis der Untersuchungen, dass das Evangelium eine Einheit bildet und nicht in Schichten aufgelöst werden kann, dass es – wie auch die Briefe – in Ephesus veröffentlicht worden ist, herausgegeben von den Schülern des Schulhauptes, und dass Evangelium und Briefe einen einzigen Verfasser haben, während der Verfasser der Apokalypse, der altes apokalyptisches Material benutzt hat, ein anderer Autor mit Verbindung zur joh Schule war.

Die 5 Kap. haben folgende Überschriften:
1. Der Ausgangspunkt: Das Evangelium und die Briefe im 2. Jh.
2. Der ‚Alte Johannes’ als der Verfasser des 2. und 3. Briefs.
3. Der erste Johannesbrief und die Spaltung der Schule.
4. Der Autor, seine Schüler und die Einheit des Evangeliums.
5. Zu Situation und Herkunft des ‚Alten Johannes’ und seiner Schule.

Kap.1: Von besonderer Wichtigkeit ist für H. die Tatsache der relativ starken Bezeugung des Corpus Johanneum im kleinasiatischen Raum von Anfang an und das ganze 2. Jh. hindurch. Vom Schulhaupt, dem Presbyter-Evangelisten, gehen Linien bis zu Irenäus und Polykrates über Polykarp, der den Presbyter noch gekannt hat und den gleichaltrigen Papias und Ignatius (nicht unwahrscheinlich 10-20 Jahre nach der Veröffentlichung des Evangeliums), Gnostikern um 140/150, der Epistula Apostolorum (130-150), Apollinaris, Melito, Justin, den Johannesakten – eine ausgezeichnete, materialreiche Darstellung!

Kap. 2: H. wendet sich gegen die Zuweisung des Corpus Johanneum an eine Vielzahl von Autoren, obwohl es nur den Hinweis auf den einen Johannes gibt, dessen Evangelium rund 10-15 Jahre nach seinem Tod zur Zeit Trajans in Ephesus veröffentlicht worden ist. Er ist der von Papias und im 2 und 3 Joh genannte ‚Alte’ – ein Jünger des Herrn, „eine als Lehrer und charismatische Autorität einflussreiche Persönlichkeit...“ Sie darf aber „nicht ohne weiteres mit dem Zebedaiden identifiziert werden“. Dieser Alte war sowohl mit der synoptischen Überlieferung wie mit paulinischen Theologumena vertraut. Während das Evangelium auf die einstige Situation in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden verweist, reagiert der ‚Alte’ in den Briefen auf Irrlehrer, die die Gemeinden jetzt zutiefst bedrohen.

Kap. 3: Hier will H. das Profil der Gegner des ‚Alten’ herausarbeiten. Sie mögen sich am freien Wirken des Parakleten orientiert haben und betrachten sich vermutlich als bessere, ‚fortschrittlichere’ Christen, deren Christus nur scheinbar Mensch war. Das Profil der Gegner meint H. auch aus dem Evangelium erheben zu können. Er führt die spät ins Evangelium integrierten Texte Prolog, Joh 6,51-71, Joh 10, Passagen in den Abschiedsreden und Joh 17 an. Der ‚Alte’ wird zwischen 60/70 und 100 gewirkt und Schüler angezogen haben, musste sich aber gegen eine Spaltung der Schule hauptsächlich durch unterschiedliche Christologie und Geistauffassung mit Briefen und Teilen des Evangeliums wehren. Für H. ist es fragwürdig, von Gegensätzen zwischen Briefen und Evangelium zu sprechen.

Kap. 4: Das ist ein Kapitel voller Kritik, sehr interessant, mit vielen Aussagen zum ‚Schulhaupt’ und seiner Schule. Es enthält viele Argumente für den ‚Alten’ als Autor des Evangeliums und für die Einheit des Evangeliums, die allerdings wegen der Herausgabe durch Schüler eine ‚relative’ ist. Dem 4. Evangelium zugrundeliegende ältere schriftliche Quellen sind – so H. im Anschluss an Ruckstuhl – stilkritisch nicht erweisbar. So wendet sich H. immer wieder gegen eine ‚Semeiaquelle’ und einen älteren Passionsbericht, sieht in der joh Gemeinde weder eine Sondergemeinde und erst recht keine Sekte, sondern vom ‚Alten’ beeinflusste heidenchristliche Gemeinden in und um Ephesus. Das Evangelium ist allerdings nicht in kurzer Zeit niedergeschrieben worden, stammt jedoch aus Augenzeugenschaft eines aus dem Judentum stammenden Lehrers, der das vere deus – vere homo in den besonderen joh Begriffen lehrt, von Mk und Lk beeinflusst ist und das Umfeld – Qumran, jüdische Apokalyptik usw. – integriert. Das jüdische Element ist vorherrschend, aber das ‚hellenische’ fehlt durchaus nicht. Redaktion wird man nur in Lieblings-jüngerpassagen erkennen, sowie in 19,35 (?) und 21,21ff. Der Titel stammt von Herausgebern.

Kap. 5: Der aus der Jerusalemer Oberschicht stammende, im Zusammenhang mit den Wirren des Jüdischen Krieges in Kleinasien angesiedelte und dann nach Patmos verbannte Evangelist will im Evangelium das jüdisch-palästinische ‚Lokalkolorit’ am geeigneten Ort – Ephesus – zur Sprache bringen. Das Judentum ist nicht sein eigentlicher Gegner. Es geht ihm um Heidenmission. Erst die Herausgeber haben zwei verschiedene Johannesgestalten ins Evangelium hineinprojiziert, den Zebedaiden und das Schulhaupt. Die Hypothese wird S. 317ff entwickelt. Dabei leitet H. immer das Motiv, das vielfältige Zeugnis des 2. Jh.s für das Corpus Johanneum auf sinnvolle Weise zu begreifen. S. 324f findet sich dann eine kleine Zusammenfassung.

Meine Anfragen will ich kurz aufführen. Ich halte bei aller Schätzung des Werkes den Lösungsversuch für nicht gelungen. Das liegt an der Überbetonung der Historie, der Auswahl von Aussagen des Irenäus (vgl. 258) und des Papias, die gültig sind, während es andere nicht sind, an der Ablehnung (fast) jeglicher literarkritischer Forschung, an der für mich falschen Beurteilung der Bedeutung des jüdisch-samaritanischen Hintergrundes für die aktuelle Auseinandersetzung (s. dagegen Wengst). Anders denke ich über die von H. vorausgesetzte Kenntnis der Synoptiker und finde sowohl Semeiaquelle als auch synoptikerähnlichen Passionsbericht (vgl. T. Mohr), auch unter Bejahung vieler statistischer und stilistischer Beobachtungen von Ruckstuhl/Dschulnigg, als zwei aufrecht zu erhaltende Hypothesen, die für die H. und auch mir so wichtige Einheitlichkeit des Evangeliums sprechen und nicht dagegen.

Für mich ist das Evangelium durch einen Autor unter Verwendung zweier schriftlicher Quellen in zwei Zeitabschnitten vor und nach grundsätzlich geänderter Situation (Synagogenausschluss) entstanden. Für den Evangelisten war das synoptikerähnliche Material aus dem Umfeld des Augenzeugen und Lieblingsjüngers, des Johannes Zebedäi, verlässliches historisches Material, das durch den vierten Evangelisten zusammen mit der Semeiaquelle unter Einfluss des Geistes in den verschiedenen Gemeindesituationen nach dem Jüdischen Krieg hauptsächlich im Gegenüber zu Juden und Samaritanern ausgelegt worden ist. Die Griechen von Joh 12 sind Zeichen für eine neue Situation, die dann das Evangelium auch nach Ephesus finden lässt und dort wegen des Apokalyptikers mit joh Traditionen zu jener Identifizierung und Verwechslung führt, für die H. genügend Material aus dem 2. Jh. angeführt hat.

Ich finde H.s Einsatz für die Einheitlichkeit des Evangeliums z.B. im Hinblick auf Beckers Kommentar notwendig und richtig, zögere aber mit der Zuweisung der Briefe an denselben Autor. Die Widmung über dem Corpus Johanneum kann meiner Meinung also nicht heißen: Dem Gedenken an unser verehrtes altes Ephesinisches Schulhaupt, Prof. Dr. Johannes, von seinen rechtgläubig gebliebenen Schülern posthum herausgegeben.

Korrigenda: Wenige und kleinere Fehler habe ich auf folgenden Seiten notiert: 17 (Fehler bei Anm. 19); 19 (Fehler bei Anm. 22); 23; 116; 118; 171; 178; 180; 197; 249; 303; 322; 325; 429. Im Autorenregister vermisse ich ‚Hengel’ – seine vielen Selbstverweise und die etwa 48 Verweise durch J. Frey. Bei Becker fehlt der Verweis auf S. 70. Im Stellenregister müssten z.B. zu Joh 8,44 S. 23 und 347 genannt sein.

In Frey’s Arbeit fehlt der polemische Ton. Er untersucht das Verhältnis von Evangelium und Briefen zur Apk. Ist die Beziehung – wie Roloff meint – nicht enger als das Verhältnis anderer urchristlicher Schriften zueinander? Ich selber denke so und  verweise  auf  den  Hebräerbrief  und  Justin,  die wohl eine Reihe von Berührungen mit dem Johannesevangelium aufweisen, die aber nur auf Wanderungen einzelner Traditionen durch Gemeinden des ersten Jh.s weisen – nicht auf die Kenntnis des Evangeliums.

F. nimmt bei seiner Untersuchung die Arbeiten von Ruckstuhl/Dschulnigg und mancher anderer auf und führt sie intensiv weiter. Er stellt wie diese fest, dass sich von der sehr einheitlichen Sprachgestalt in Evangelium und Briefen die Diktion der Apk unverkennbar abhebt, und fragt: „Kann das Werk also von einem Glied der joh Schule unter Benutzung älterer apokalyptischer Fragmente herausgegeben sein?“ Nach der Überschrift „Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum“ lauten die 7 Kap. dann:

1. Das unerledigte Problem. 2. Der Vergleich des Vokabulars. 3. Die Berührungen in der Phraseologie. 4. Beobachtungen zu Syntax und Stil. 5. Motivische Berührungen und theologische Parallele. 6. Die Frage nach dem traditionsgeschichtlichen ‚Gefälle’. 7. Schlussüberlegungen. Die bleibende Aporie.

F. sieht, dass ein Apokalyptiker letzter Hand dem Gesamtwerk seinen Stil aufgeprägt hat. Er steht dem joh Kreis nahe – sogar in einem Schulzusammenhang. Man kann aber Evangelium und Apk nicht gradlinig voneinander ableiten. Beide Werke entstehen etwa zu gleicher Zeit. Die beiden gemeinsamen Motive machen in der Apk einen archaischeren Eindruck. F. fragt sich, ob es eine gemeinsame Schule vor Apk und Evangelium gab. Der Letztredaktor der Apk hat kunstvoll komponiert und dabei auch älteres Material z.T. aus der joh Schule benutzt. Bei der Diskussion der Absenderangabe sieht F. zwei Möglichkeiten: a) Der Name ‚Johannes’ aus der Apk trifft zu, dann wären Briefe und Evangelium diesem erst nachträglich zugeschrieben worden, oder b) die Apk ist ein Pseudepigraphon, das in der redaktionellen Rahmung dem kleinasiatischen  Johannes    zugeschrieben     wurde.     F. denkt     mit H. an b), während ich gute Gründe für a) sehe. F. sieht die Herausgabe der Apk in der mittleren trajanischen Zeit durch einen Schüler der joh. Schule, der sich in einer früheren Phase von dieser getrennt hat und eine als Gemeindebrief stilisierte Offenbarungsschrift geschaffen hat.

F.s arbeitsintensive Untersuchung gefällt mir sehr gut. An dem gemeinsamen Buch wird jedoch nicht nur der Vorteil einer Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler ersichtlich. Die Abhängigkeit von den Ergebnissen des Lehrers kann zu groß werden und hemmt dann eigene Wege und Entscheidungen. Deswegen neben der Anerkennung des Hauptergebnisses von der unterschiedlichen Autorschaft von Evangelium/Briefen und Apk und der guten Darstellung der Berührungen beider Werke meine Anfragen:

  • Sollte ein nach H. 30-40 Jahre lang wirkender Pesbyter-Evangelist in derselben Gegend und derselben Zeit so leicht Autor einer apokalyptischen und noch dazu durch Zutun eines ehemaligen Schülers der joh Schule werden können?
  • Haben die kleinasiatischen Gemeinden solch ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis?
  • War denn der Evangelist auf Patmos?
  • Warum fehlt das dann in dem nach H. und F. redaktionellen Schluss in Joh 21?
  • Wenn sich ein Schüler von seiner Schule getrennt haben sollte, warum beruft er sich dann auf sie und seinen ehemaligen Lehrer, indem er eine Apk unter dessen Namen herausgibt?

Klaucks Bemerkung von der „...nach wie vor dornigen“ joh Frage ist für mich durch das weithin ausgezeichnete Doppelbuch von M. Hengel und J. Frey mehrfach unterstrichen worden.