Gemeinde unter höchster Belastung
Die Zeit, in der Jesus nicht mehr körperlich bei der Gemeinde ist, wird angesprochen. Sie ist bestimmt durch Hass, Synagogenausschluss. Tod, Traurigkeit, Misserfolge in der Verkündigung, unerträgliche Belastung, Weinen und Klagen:
Fragen über Fragen!
Was setzt Jesus dagegen?
Jesus redet von verschiedenen Zeitabschnitten: 16,5 „nun“ – 16,23 „an jenem Tage“. Unser Predigtabschnitt sollte mit 16,23a beginnen. Das ist die prophetische Zeitansage der Endzeit. Über dem „nun“ können Menschen aller Zeiten das Ziel aller menschlichen Einzelgeschichte und aller Weltgeschichte, von Gott herbeigeführt, vergessen. Eine sehr überraschende Definition dieses Zieles Gottes lautet: „An jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.“ Dem lohnt es sich, in der Predigt nachzugehen. Jesus spricht die Worte am Tag vor seinem Tode. Den Jüngern scheint alles klar zu sein (16,30).
Infrage gestellter Glaube
Aber Jesus stellt nun eine Frage (16,31: Ihr glaubt nun?) und deutet mit seinem Hinweis auf die Schrift (Zach 13,7) die größte Krise für die Jünger an. Beim Propheten heißt es: „Schlage den Hirten, dass sich die Herde zerstreue!“ Damit ist zugleich die größte Frage durch die fliehenden Jünger gestellt: Wie werden sie und wir mit der Erfahrung eines geschlagenen Hirten als Gemeinde leben können? Wie können sie und wir die Zusage von „einem Hirten und einer Herde“ (Joh 10,16), da wir nun verstreut sind, verstehen?
Gebet: Privileg oder nicht?
Eine Bewältigung der härtesten aller Erfahrungen ist durch das Gebet im Namen Jesu möglich (16,23b). Es heißt also, die eigene Geschichte in und mit der Geschichte Jesu, des geschlagenen Hirten, durchzubeten. Dabei geht es nicht um Wünsche, deren Erfüllung das Leben eines Christen auf banaler Ebene im Vergleich zu dem eines Nichtchristen durch Gott zu privilegieren. Es geht bei der Gebetserfüllung darum, eine nicht zerstörbare Freude zu gewinnen, die in der Friedenszusage Jesu (16,33) enthalten ist. Im Namen Jesu zu beten, heißt, im Namen des Jesus zu beten, der dem Kreuz um der Mitmenschen willen und der Liebe zu Gott willen nicht ausweicht. Im Namen Jesu zu beten, heißt, im Namen des Jesus zu beten, der auf seinem Weg beim Vater angekommen ist: 16,28 „Ich bin vom Vater ausgegangen und gekommen in die Welt; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater.“ Der beim Vater Angekommene wird mit den Jüngern „an jenem Tage“ neu vom Vater reden können: nicht nur das Fragen, sondern auch das Bitten aus größter Not heraus wird nicht mehr notwendig sein: Der Vater liebt euch doch“
Vorhersage – Gebet – Friedenszusage als Bewältigungshilfen
Die Bewältigung der härtesten aller Erfahrungen, dass der Hirte geschlagen wird und die Schafe der Herde sich zerstreuen, wird durch das Gebet und durch die Vorhersage dieser Erfahrungen durch Jesus (16,33), verbunden mit der Friedenszusage, möglich. Diesen Frieden aber kann Jesus zusagen, weil er alle Gottesfeindschaft überwunden hat, indem er in der Liebe Gottes bis zum Ende geblieben ist. Das Gebet in Joh 17 ist dann das Zeugnis dieses Bleibens Jesu in der Liebe.
PREDIGT ZUM JAHRESWECHSEL 1972/1973 in der Thomaskirche und der Matthäuskirche Erlangen über
Joh 16,33b
Wir haben uns ein wenig Ruhe ausgespart. Die wollen wir jetzt dazu benutzen, um über das vergangene Jahr in unserem Leben nachzudenken und uns einige Gedanken über unsere Zukunft und Hoffnung zu machen.
Am Ende dieser stillen Zeit von einigen Minuten wird die Predigt über das Jesuswort stehen, das uns im Johannesevangelium im 16. Kapitel überliefert ist:
"In der Welt habt ihr Angst,
aber seid getrost,
ich habe die Welt überwunden."
(stille Zeit)
Liebe Gemeinde,
Ihre Gedanken zum Jahreswechsel sind wichtig. Natürlich zuerst einmal für Sie selbst wichtig. In diesen paar Minuten der Stille hat nicht das, was normalerweise Schlagzeilen macht, eine Rolle gespielt, sondern das, was in Ihrem Leben für Sie Schlagzeilen macht, worauf es Ihnen ankommt.
Da steht Freude, Dankbarkeit, Zufriedenheit neben Leiden, Mitleiden, Not und Angst. Da spielen konkrete Menschen und Situationen eine Rolle.
Diese Ihre Gedanken sind jedoch nicht nur Ihnen wichtig, sondern vielleicht auch anderen Menschen und ganz bestimmt Christus, der uns heute auf eine ganz bestimmte Situation hin anspricht: Wenn die Angst uns umtreibt. Er sagt:
"In der Welt habt ihr Angst,
aber seid getrost,
ich habe die Welt überwunden."
Jesus meint damit offensichtlich: Die Angst dieser Welt ist durch mich nicht mehr das, was sie sein könnte. Ihre Angst, liebe Gemeinde, wiegt nicht mehr schwer genug, als dass sie Ihre Zukunft bestimmen könnte, wenn Sie auf Jesus hören, der die Welt überwunden hat.
Ich habe jetzt einfach Worte des Neuen Testamentes wiederholt, die uns heute nicht mehr so klar sind wie denen, die sie zum ersten Mal gehört haben.
Was heisst denn für uns heute: "... denn ich habe die Welt überwunden."?
Wir wollen die Begründung, warum wir keine Angst mehr zu haben brauchen, sondern getrost sein können, genau verstehen, damit wir unsere Angst verlieren, die sich da vom alten in das neue Jahr hineinschleppt und damit wir ein Leben führen können, das in allen Situationen immer noch von der Zuversicht, von der getrosten Haltung, geprägt ist.
Wer sich mit Furcht und Angst beschäftigt und beides wegbringen will, muss vorsichtig sein, damit ihm nichts Schlimmeres widerfährt. Ein Atheist, Ernst Bloch (Atheismus im Christentum S. 228) hat andere, die gleich ihm ohne Gott leben wollen, beobachtet, wie sie mit der Furcht fertig zu werden versuchen. Die einen flüchten sich in die Trivialität, in der jedes Nachdenken verdrängt wird und in der man das Leben von der leichtesten Seite nimmt. Bloch hat nun beobachtet: "Die Furcht wird in der Trivialität zwar aufgehoben, aber um den Preis einer anderen Enge: Der Verkümmerung." Das ist kein Weg, um mit der Feststellung fertig zu werden: "In der Welt habt ihr Angst."
Wer unter uns kennt nicht Menschen in seinem Bereich, die so weglos dahinleben? Wer unter uns lebt selbst so?
Bloch beschreibt noch einen anderen Versuch, mit Furcht und Angst fertig zu werden. Es ist der Versuch der Nihilisten, die überzeugt sind, dass alles sinnlos ist und jeden Wert verneinen. Bloch schreibt: "Im Nihilismus wird die Furcht ebenfalls aufgehoben, doch um den noch höheren Preis: Verzweiflung."
Bloch selber will Verkümmerung und Verzweiflung entgehen und macht seinen eigenen Vorschlag, wie man mit der Furcht fertig werden kann: militanter Optimismus. Das ist sein Schlagwort. Hoffen dass alles gut geht und dafür kämpfen. Auch er muss sich die Frage nach dem Preis gefallen lassen. Könnte der militante Optimismus im absoluten Nichts enden?
Diese drei verschiedenen Wege sind ja in unserem eigenen Leben nicht unbekannt. Wir kennen sie als Stimmungen und Versuchungen, aber wir ahnen auch, dass hinter dem Wort Jesu mehr steckt als dass es nur eine von vier Möglichkeiten ist: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden."
Jesus sieht uns in unserer Angst, aber er schlägt keine Fluchtwege vor, deren Ende man schon absehen kann: Verkümmerung, Verzweiflung, absolutes Nichts. Er nimmt uns in unserer Angst wahr und sagt: Ja, da steht ihr. Er sieht die Angst der flüchtenden Mutter mit ihrem Kind in Vietnam, er sieht das von Furcht gepackte Gesicht, dem mit Trivialität, Nihilismus oder militantem Optimismus nicht zu helfen ist, sondern nur durch vollkommene Zuwendung in Worten und in der Tat: Sei getrost, ich habe die Welt überwunden. Das Gesicht der Jünger Jesu war am Tage der Kreuzigung solch ein von Furcht gepacktes Gesicht, und die Jünger haben sich auf die Flucht begeben und Jesus allein gelassen. Aber Jesus hat ihnen im Zusammenhang mit Ostern die Angst abgenommen, so dass Paulus sagen konnte: "Nun aber spiegelt sich bei uns allen die Herrlichkeit des Herrn in unserem aufgedeckten Angesicht." Natürlich war noch Angst da, aber nicht mehr dominierend. "Ich bin guten Muts in Ängsten, um Christi willen" - schreibt er einmal. Christus hat die Enge ein für allemal aufgebrochen, die Welt überwunden.
Das heisst für uns konkret: Er hat die Grenze jeder Macht aufgezeigt - und eine begrenzte Macht kann nur begrenzte Angst erzeugen und in der begrenzten Angst wird die Freiheit sichtbar.
Jede Zuwendung, die wir einem Menschen entgegen bringen, ist ein Zeichen dieser Freiheit und ein Einbruch in den Bereich der Angst. Wenn Maler Angst darstellen wollten, haben sie einen einzelnen Menschen uns vor die Augen gestellt. Wenn sie das Ende der Angst aufzeigen wollten, haben sie einen Menschen gezeichnet, der sich dem anderen zuwendet, wie sich Jesus in seinem Wort uns zuwendet.
Im kommenden Jahr werden manche unter uns von der großen Angst ausgespart werden, so dass sie fast meinen könnten, die Welt ist heil und Jesus Christus könnte man zur Not entbehren. Für den anderen unter uns, den die Angst umfangen wird, wäre es eine Hilfe, wenn er wüsste: Die anderen haben mich bei ihren Gedanken über die Zukunft im Jahre 1973 mit eingeschlossen. Nur so wäre das 'sei getrost!' nicht 'eine Art schwaches, doch sozusagen wohlklingendes Parfüm' - wie es Bloch bei uns Christen vermutet - sondern das einzige, was gegen die Angst hilft und was die Hoffnung am Leben erhält, dass durch Jesus einmal die ganze Angst aufgehoben sein wird. Amen