Rezension Joh. Kommentar: C. Dietzfelbinger

Christian Dietzfelbinger

Das Evangelium nach Johannes
Theologischer Verlag Zürich, 2001, 2 Bde., 793 Seiten

 

Rezension von Günter Reim

in: Korrespondenzblatt. Hrsg. vom Pfarrer- und Pfarrerinnen-verein in der ev.-luth. Kirche in Bayern, Nr. 5 2003, 79ff

 

Johanneskommentare nach R. Bultmann –
das neue Werk von Christian Dietzfelbinger

In einem Brief vom Mai 1995 schrieb mir Christian Dietzfelbinger: „Die Möglichkeiten, die ich noch in mir trage, werden in ihrer Gänze dem Johannesevangelium gewidmet sein. Man wird ja in keiner Weise mit diesem Buch fertig.“
Gut, dass er sein Werk abgeschlossen hat!

D. hat einen ausgezeichneten Kommentar – Das Evangelium nach Johannes, Theologischer Verlag Zürich, 2001, 2 Bde., 793 Seiten – geschrieben. Ich bespreche ihn, nachdem im Korrespondenzblatt (Juli 2002) meine Rezension zu Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Stuttgart 2000 und 2001, ca. 750 S. erschienen ist. Früher, im August 1976, hatte ich schon in den Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern die drei Bände von Rudolf Schnackenburgs Johanneskommentar (mit dem Ergänzungsband 1984 ca. 1800 S.) besprochen. Es war dies der erste große Johanneskommentar nach R. Bultmann (1941, ca. 560 S.).

Chr. Dietzfelbinger und K. Wengst

Gut, dass D.s Kommentar fast zeitgleich mit dem von Wengst und etwa gleich lang erschienen ist, weil wir nun zwei grundverschiedene Kommentare vorliegen haben, die vom selben  Stand  der  Literatur zum   Johannesevangelium  ausgehen konnten. Aber – und hier liegt der Unterschied zwischen diesen beiden Kommentaren und zu den großen Werken von R. Bultmann, J. Blank (ca. 1350 S.) und R. Schnackenburg – sie haben keine Anmerkungen oder Register, die über die Auseinandersetzung mit der gesamten Johannes-Literatur Auskunft geben könnten (D. hat drei Seiten Sachregister und eine Seite mehrfach zitierte Literatur). Es sollten also Kommentare für den Gebrauch von Student/Innen und Pfarrer/Innen entstehen. Die Kenntnis von Griechisch oder Hebräisch – bei Bultmann und Schnackenburg unerlässlich – wird bei D. und W. nicht vorausgesetzt.

Nach diesen Vorbemerkungen und im Hinblick auf die nahezu identische Länge der Kommentare von D. und W. könnte man erwarten, dass man zwei sehr ähnliche Kommentare in die Hand bekommt. Aber die Ähnlichkeit gilt nur für einen, wenn auch wichtigen Bereich, aber selbst in diesem Bereich kommt es zu grundverschiedenen Aussagen!

Das Evangelium als Zeugnis von Bedrückung und Widerstand um das Jahr 90

W. und D. legen das Johannesevangelium konsequent als ein aus den Bedrückungen der johanneischen Gemeinde in einem feindlichen jüdischen Umfeld um das Jahr 90 entstandenes Evangelium aus. W. war diesen Schritt schon mit seinem wichtigen kleinen Buch „Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus“, 4. Aufl. München 1993 gegangen. Dieses Buch zieht D. wiederholt heran, aber nach meinem Urteil ist die Auslegung von jener johanneischen Gemeinde her im Hinblick auf im Synagogenbereich lebende Juden bei D. noch viel intensiver.

Abschied vom jüdischen Kult?

Eine entscheidende methodische Überlegung D.s lautet:
„Hinter Interpretationsvorgängen stehen  immer  Interpretationsbedürfnisse, und diese erwachsen aus bestimmten Notwendigkeiten, Entwicklungen, Konstellationen. Sie entstehen dort, wo bisherige Verstehensmöglichkeiten ihre überzeugende Kraft verloren haben...“ (II,74)

Durch konsequente Anwendung dieses Grundsatzes wird das theologische Profil sowohl der jüdischen johanneischen Gemeinde als auch der jüdischen Gegner sehr deutlich. Total verschieden von Wengst allerdings ist D.s Beurteilung der johanneischen judenchristlichen Gemeinde in ihrer Stellung zum jüdischen Kultus, den Festen, der Schrift. Für mehrere Beispiele hier nur eins. D.: „Der jüdische Tempel wird durch Jesus ersetzt“ (I,230). W.: „Wie Gott im Tempel gegenwärtig ist, so ist er es auch in Jesus.“ (I,112f) Und: „Wir verstehen den „Tempel seines Leibes“ nicht als Ablösung des dann später zerstörten Tempels...“ (I,114).

Von eigenen Forschungen her – ich habe das in der Rezension von Wengsts Buch angesprochen – unterstütze ich voll und ganz das Urteil D.s, für das er in I,230f mehrere Beispiele anführt, die ihn zu der Aussage bringen: „Man kann nicht bezweifeln, dass im Johannesevangelium ein umfassender Angriff auf den jüdischen Kultus geführt wird...Wir werden der Entwicklung ansichtig, in deren Verlauf die johanneische Gemeinde sich vom Judentum so weit entfernte, dass aus Judentum und Christentum zwei verschiedene Religionen wurden....Dass die sich Unterscheidenden ihre Unterschiedenheit friedlich leben, sie zur wechselseitigen Klärung und Vertiefung auswerten und so die Unterschiedenheiten eingrenzen, ohne sie zu verwischen, darin liegt die Aufgabe, die uns heute beim Bedenken des Verhältnisses Synagoge – Kirche gestellt ist.“

Ich denke, dass es dem jüdisch-christlichen Dialog – wo er überhaupt in Ansätzen stattfindet – nicht nützt, einer durch die Exegese des Johannesevangeliums nicht gestützten Nivellierung  des  Unterschiedes  zwischen  johanneischem  Christentum und Synagoge das Wort zu reden, wie Wengst es unter dem Eindruck des Holocaust tut.

Vorjohanneische Tradition

Ein zweiter Unterschied zu W. ist D.s häufiges Reden von vorjohanneischer Tradition. Gedanken über literarkritische Probleme im Johannesevangelium gibt es bei W. kaum, weil es ihm auf die Auslegung der Endgestalt des Evangeliums ankommt. Zwar findet sich bei ihm als Ausnahme Joh 21 – „Nachtrag von anderer Hand“, aber in den Einzelauslegungen z.B. von Joh 6 oder 10 oder der Abschiedsreden spielen – anders als bei D. – literarkritische Überlegungen keine Rolle. Er legt von den jüdisch- judenchristlichen Stolpersteinen in unserer Zeit her das Evangelium aus und will Antijudaismus abbauen.

D. spricht immer wieder – besonders im Zusammenhang mit der Passionsgeschichte – von vorjohanneischer Tradition, die z.T.  älter ist als das Markusevangelium (II,270 – zum Todestag Jesu), mit den synoptischen Berichten verwandt, aber nicht identisch.

Ich denke, dass jene vorjohanneische Passionstradition Jesu Einzug (Joh 12,14f), die Zerstreuung der Jünger (Joh 16,32) und Tod (Joh 19,37) von Sach 9,9; 13,7 und 12,10 her verstand und man 19,35, von D. als späterer Einschub verstanden, als Einschub schon einer Gemeinde vor Johannes in einen alten synoptikerartigen Bericht ansehen muss. Der Zeuge ist also Zeuge einer vorjohanneischen Gemeinde, von der Johannes sein Material der Passionsgeschichte (und mehr!) erhalten hat.

Dietzfelbingers   Beziehung   zu   den   großen Kommentaren

Als Überschrift über die gesamte Rezension hatte ich gewählt „Johanneskommentare nach Bultmann“. Nach dem Blick auf Wengsts Kommentar nun einige Bemerkungen zu den anderen Kommentaren, die von D. angeführt werden. Bultmann, Schnackenburg, Blank, Becker und Brown werden nur selten zitiert. Von Bultmanns Gnosis-These und der Offenbarungsredenquelle bleibt nicht einmal eine Erwähnung übrig. Schnackenburg und Blank werden selten herangezogen, Becker mit seiner ausführlichen Darstellung einer kirchlichen Redaktion wird von D. nicht genannt, wenn er seinerseits von Redaktion spricht. Die meisten Beziehungen gibt es zu R. E. Brown (Kommentar und „Ringen um die Gemeinde“, Salzburg 1989) und Wengst hinsichtlich der Auseinandersetzung der johanneischen Gemeinde mit einem Teil des Judentums. Es fehlt also weiterhin für streng wissenschaftliche Arbeit ein neuer Kommentar wie der von R. Schnackenburg, der in dieser Hinsicht immer noch sehr gute erste Wahl ist, aber im Hinblick auf die vergangenen Jahre seit seiner Erscheinung ergänzungs-bedürftig.

Was leistet der Kommentar Dietzfelbingers?

Die intensive Darlegung der jüdisch – judenchristlichen Auseinandersetzung um das Jahr 90 und der Versuch des Verstehens der jüdischen Haltung ist schon ein besonderer Wert des Kommentars. Dazu kommen die ausgezeichneten Einzelauslegungen, für Gemeindearbeit und eigenes Verstehen gut nutzbar, wie auch seine vielen Bezüge zum „Heute“. Ich habe mich über die vielen Verbindungslinien zu den „alten Griechen“, zu Cicero, Joachim von Fiore, Luther, Lessing, Bengel, Nietzsche... gefreut. Man sieht auch, woher D. geistlich kommt, wenn man seine vielen angeführten Choräle (etwa 23) mit Bezug zum Johannesevangelium „hört“, dazu kommt Bachs Johannespassion... . Das literarische Interesse D.s kommt oft zum Vorschein, besonders Dostojewski ist zu nennen und die Literatur im Zusammenhang mit der Lazarusgeschichte. Für mich am wertvollsten erscheinen viele Exkurse (z.B. zur Präexistenz,  zur  Mission,  zu  Geschwisterliebe   und   Feindesliebe, zum Wesen und Besonderheit der johanneischen Abschiedsreden, zur Eschatologie, zur  Geschichte der johanneischen Gemeinde, zum „Leben“ im Johannesevangelium, zum Parakleten, zu Verherrlichung, Glauben und Erkennen). Das sind Exkurse, die faszinierend und weithin überzeugend sind, geschrieben in einer schönen, kultivierten Sprache. Neben diesen Exkursen müssen die Zusammenfassungen genannt werden, die oft am Ende von Einzelauslegungen stehen und sehr hilfreich sind. Besonders im zweiten Band des Kommentars merkt man, wie intensiv D. schon früher (Der Abschied des Kommenden, (WUNT 95), Tübingen 1997) die Abschiedsreden durchdacht hat.

Abweichende Erkenntnisse

In einigen Bereichen des Johannesevangeliums weichen meine eigenen Erkenntnisse zum Teil oder auch stark von den Annahmen D.s ab. Das hängt weithin von Ergebnissen ab, zu denen ich schon länger oder erst in den letzten drei Jahren gekommen bin. Seit Jahren schon sehe ich Targume als wichtigen Hintergrund für johanneische Theologie an. Die Darstellung Jesu als gewaltfreien König im Johannesevangelium, als König der Wahrheit nach Ps 45 (hebr. Text), zu dem Gott als Gott spricht und der zum Königsbegräbnis große Mengen an „Aloe und Myrrhe“ (der Begriff kommt so nur in Ps 45 vor) ins Grab gelegt bekommt und der nach Targum Jes 28,16 in Zion als König eingesetzt wird, durch den die, die glauben, bleiben, leben, ist ein Spezifikum des Evangelisten Johannes. Zu dieser targumischen Auslegung Jesu als König gehört auch Jes 6, wo der König der ist, der von Gott gesendet und von Jesaja gesehen wird. Die wichtige Arbeit Bühners zum Gesandten, von D. wiederholt zitiert, muss also im Hinblick auf das johanneische Verständnis von Jes 6 fortgeschrieben werden: Der Gesandte ist der König, der Sohn Gottes, gemäss Jes 6.
Johannes arbeitet in der Zeit zwischen den Kriegen von 66ff und 133ff das Bild des gewaltfreien Königs heraus, den Juden von Psalmen und Jesaja und Sacharja her (z.T. auf Grund targumischer Interpretation) erwarteten und als johanneische Gemeinde auch aufnahmen. Dabei konnte Johannes an Jesu Königsaussage vor Pilatus aus vorjohanneischer Tradition anknüpfen und diese von der Schrift her ausgestalten.

Weitere wichtige alttestamentliche Texte für das Verständnis des Johannesevangeliums sind LXX Ps 39 und Ps 95.

Der zweite Bereich, in dem weitere Klärung nötig ist, betrifft die Frage nach dem Autor, bzw. den Autoren, Redaktoren, Schülern des Evangelisten. D. hat besondere Ergebnisse für die Abschiedsreden und das Gebet in Joh 17: Weil der Evangelist sein Werk nicht vollenden konnte, hätten seine Schüler in veränderter Gemeindesituation das Evangelium weitergeschrieben und – mit Joh 21 als Nachtrag – herausgegeben. Joh 13,31-14,31 (vom Evangelisten); 15,1-16,15 (von einem eigenen Autor); 16,16-33 (von einem weiteren Autor); 17,1-26 (ein Gebet mit „innerjohanneischer Eigenständigkeit“).

Ich nehme dagegen an, dass der Evangelist in veränderter Gemeindesituation (Ausschluss aus der Synagoge, Todesgefahr...) die Abschiedsreden selbst weitergeschrieben hat und dass Joh 21 zu dem synoptikerähnlichen Material einer vorjohanneischen Gemeinde gehört, das der Evangelist an vielen Stellen seines Evangeliums eingearbeitet und bearbeitet hat.

Der dritte Bereich, bei dem ich anders als D. denke, betrifft die Frage D.s: „Warum also schrieb er ein neues und ein anderes Evangelium?“ (I,11) – wenn ihm doch nach D.s Meinung mindestens eines der synoptischen Evangelien bekannt war oder ihm wenigstens Material bekannt war, das in den synoptischen Evangelien verarbeitet ist. D.s Antwort, die ich nicht teile: „Er will den synoptischen Evangelien, die ihm theologisch nicht genügten, eine qualitativ bessere Evangelienschrift an die Seite stellen.
Es war also eine bewusste Konkurrenz, in die Johannes zu den Synoptikern trat. Das setzt ein hohes Selbstbewusstsein voraus, und Johannes besaß es.“ (I,12)

Ich denke, dass der Evangelist mehrere Traditionen (Wundertraditionen, synoptikerähnliches Material mit Aussagen über das Verhältnis zwischen Geliebtem Jünger und Petrus, Traditionen aus dem Umkreis des Hebräerbriefes und die eigene Herkunftstradition des Evangelisten aus Weisheitskreisen) in einer neuen Form mit neuen theologischen Schwerpunkten und Anschauungen zu dem einen Evangelium zusammenfügte, das uns nun vorliegt. Unebenheiten und Aporien hängen mit der schwierigen Komposition dieser verschiedenen Traditionsmaterialien zu verschiedenen Zeiten zusammen.

Abschließende Wertung

Der sehr sympathische und exzellent gearbeitete Kommentar in gekonnter Sprachform ist allen im Bereich neutestamentlicher Theologie Lehrenden, Lernenden und in der Praxis der Gemeindearbeit Tätigen überaus herzlich empfohlen. Er ist – bis auf manche wohl „computergenerierte“ Fehler – ausgezeichnet und übersichtlich gedruckt.