Im Johannesevangelium gibt es wahrscheinlich drei Hinweise auf die geographische Lage der joh. Gemeinde:
a) Eine wichtige Rede mit durchgehend joh. Charakter und universalistischer Weite37 finden wir in Joh 6 im Anschluss an zwei Geschichten aus der Tradition. Diese Rede kann jedoch nur der vollkommen verstehen, der hebräische Sprachkenntnisse hat.38 Diese Rede verlegt der 4. Evangelist in die Synagoge von Kafarnaum. Ich vermute, dass die joh. Gemeinde diese Synagoge zumindest vom Hörensagen kannte, wahrscheinlich aber aus eigener Anschauung.
b) Joh 7,34 spricht Jesus davon, dass Juden ihn suchen, aber nicht finden werden, weil sie nicht dahin kommen können, wo er ist. Zuhörer interpretieren das so in 7,35: Will er denn dorthin gehen, wo Juden unter Griechen verstreut wohnen, und will er diese Griechen lehren? Diese Überlegung zählt zu den Missverständnissen, die den Stil des Evangelisten kennzeichnen.39 Die gedachte Antwort des Evangelisten und des christlichen Lesers ist eine doppelte: Nein, Jesus will ja zum Vater gehen. Und: Ja, sie haben nicht ganz unrecht, natürlich wird Jesus - in Form unserer Gemeinde - die Griechen lehren, denn er ist ja der Heiland der Welt. Und zu dieser christlichen Gemeinde könnten die Juden natürlich kommen.40 Nun ist die Diaspora weltweit, und man könnte sagen, dass der Ort der joh. Gemeinde irgendeiner mit jüdischem Bevölkerungsanteil sei, aber die nächstliegende Diaspora begann jenseits des Jordan.
c) >Die Stunde<, in der der Menschensohn verherrlicht werden soll, ist für den Evangelisten dann gekommen, als etliche Griechen durch Vermittlung von Philippus und Andreas zu Jesus gekommen sind, um ihn zu sehen. Vorher war diese Stunde immer wieder als noch nicht gekommen bezeichnet worden. Was ist für den Evangelisten so wichtig, dass dieser unmittelbar nach der Begegnung von Griechen mit Jesus so bedeutungsschwer spricht? Diese ersten Griechen sind für Johannes sicher die Vorgänger der Griechen, die in seiner joh. Gemeinde leben und die Vorgänger derer, die für diese Gemeinde, für Jesus gewonnen werden sollen. Wer ist der, an den sie sich wenden? Es ist der Jünger mit dem griechischen Namen Philippus. Es ist der Jünger, der an der Grenze wohnt, besser: schon jenseits der Grenze bei Kafarnaum, im Grenzgebiet zur Diaspora. Philippus wohnt dort, wo Agrippa II. über sein Land herrscht, in dem Juden und Griechen wohnen. Auch der zweite Jünger, der vermittelt, Andreas, aus Betsaida, hat einen griechischen Namen. Er war nach Joh 1,35.40 ursprünglich Täuferjünger, also mit dem Gebiet jenseits des Jordan vertraut. Er tritt in Joh 6,7f zusammen mit Philippus bei der Speisung jenseits des Jordan41 auf und weist auf einen Knaben mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen und stellt die Frage, die für den Evangelisten einen doppelten Boden hat: Aber was ist das für so viele? Es könnte sein, dass der Evangelist die Jünger Philippus und Andreas mit den Anfängen der Juden- und Griechenmission im Gebiet des Agrippa, also in der Diaspora, in Verbindung bringt, eine Mission, die trotz der geringen Voraussetzung von fünf Broten und zwei Fischen große Verheissung hat, weil Jesus selbst das Brot ist und den Hunger eines jeden stillt, der zu ihm kommt - Jude oder Grieche (6,35). Philippus ist dann auch der, dem verheißen wird (14,8ff), dass derjenige, der glaubt, auch die Werke Jesu tun kann, ja, sogar grössere, weil Jesus ja zum Vater geht. Die Mission von Juden und Griechen in der Diaspora ist das grössere Werk.42