Targum und Johannesevangelium

(Ursprünglich in: Biblische Zeitschrift NF 1983, 1-13. Jetzt auch in JOCHANAN – Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums Erlangen 1995 334-347)

Abstract

Der Evangelist Johannes hat intensive Kenntnis targumischer Interpretation und macht sie für sein Evangelium fruchtbar.

Inhalt:

1. Der Messias im Targum und im Johannesevangelium

2. MEMRA im Targum und der Messias vor seiner Inkarnation

3. Einzelprobleme zu Targum und Johannesevangelium

4. Auswertung des Targum-Hintergrundes

Schlussbemerkung

1. Der Messias im Targum und im Johannesevangelium

Im Tg wird Ps 45,3 auf den Messias gedeutet: "Deine Schönheit, o König, Messias, ist vorzüglicher als die der übrigen Menschenkinder1." Diese Deutung unterscheidet sich von der in rabbinischer Literatur. Wie ich gezeigt habe2, wird Jesus im Johev bei seiner Begegnung mit Pilatus auf dem Hintergrund des messianisch verstandenen Ps 45 dargestellt: Sein Königreich ist nicht von dieser Welt. Seine Aufgabe als Messias nach Ps 45 ist es, für die Wahrheit zu zeugen und nicht das Schwert zu gebrauchen3. Durch sein Wort fallen die Feinde zu Boden4. Dieser König Jesus, der sein Reich durch die Wahrheit begründet, wird in Anknüpfung an Ps 45,6f von Thomas als Gott angesprochen5.

Diese Parallele des Johev im Messiasverständnis zum Tg ist keine Einzelerscheinung. Folgende vom Tg messianisch verstandenen Aussagen finden sich auch im Johev:

Gen 49,8-12

Pal. Tg Gen 49,8 stellt Ps 45,3 mit Gen 49,8 zusammen: "How beauteous is the King Meshiha, who is to arise from the house of Jehuda!" GnR 99 (63b) verbindet die messianisch verstandene Aussage in Gen 49,10 mit Ps 45,7: "Nicht wird das Zepter von Juda weichen" Gen 49,10; damit ist der Thron der Königsherrschaft gemeint, (wie es heißt): Dein Thron, o Gott, währt immer u. ewig, ein Zepter der Gerechtigkeit ist das Zepter deiner Königsherrschaft Ps 45,7.

Dass die Schilo-Erwartung aus Gen 49,8-12 hinter der johanneischen Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen und der Aussage in Joh 4,22 steht, dass das Heil von den Juden kommt, habe ich in einem Artikel dargelegt6.

Jes 52,13-53,12

MT Jes 53,2 heißt es: "Er hatte keine Gestalt und keine Schöne" (lo hadar).

Wenn es dagegen im Tg Jes 53,2 heißt: "Kein profanes Aussehen ist sein (sc. des Messias) Aussehen", so nehme ich an, dass das Tg Jes 53,2 - und darüber hinaus Jes 53 überhaupt - vom messianisch verstandenen Ps 45,5 ("Es möge dir gelingen in deiner Herrlichkeit" = wehadarecha zelach) her neu interpretiert worden ist: Der erfolgreiche Messias (Jes 52,13) hat eine außermenschliche Schönheit (vgl. Tg Gen 49,8).
Wenn das Johev in Anknüpfung an Jes 52,13 immer wieder von der Erhöhung Jesu am Kreuz und seiner Verherrlichung redet7, derGekreuzigte also nicht als der gesehen wird, der keine Gestalt noch Schöne hatte, sondern als der in der Kreuzigung Erhöhte und der Verherrlichte, so liegt also auch hier wieder eine erstaunliche Parallele zum Jes 53 messianisch verstehenden Tg vor8.

Jes 28,16

Auf Grund anderer Punktierung als im MT heißt es in Tg Jes 28,16:

"Therefore thus saith the Lord Elohim, Behold, I will appoint in Zion a king, a strong king, powerful and terrible. I will make him strong and powerful, saith the prophet; but the righteous who have believed in these things shall not be dismayed when distress cometh."

In meinen Studien9 habe ich darauf hingewiesen, dass die in vielen Variationen bei Joh auftauchende Formulierung "wer an mich glaubt, wird in Ewigkeit leben" aus Jes 28,16 stammt. Der "Stein" wird vom Tg als "König" gedeutet, im Tg Sach 4,7 als "Messias". Hinter den johanneischen Aussagen vom "glauben an ihn" bzw. "an mich" steht offensichtlich das Verständnis des "Steines" aus Jes 28,16 als dem messianischen König wie im Tg.

Jes 11,1ff / Jes 42,1ff

Jes 11,1ff wird vom Tg - wie auch in rabbinischer Literatur - messianisch gedeutet: "And a king shall come forth from the sons of Jesse, and an Anointed One (or, Messiah) from his sons' sons shall grow up. And there shall rest upon him a spirit from before the Lord...and not according to the sight of his eyes shall he judge...In the days of the Anointed One (or, Messiah) of Israel peace shall be multiplied in the land...".

Wenn Joh in 1,33 Jes 11,2 auf Jesus bezieht, spricht er zwar nicht wie das Tg vom Messias, sondern vom "Auserwählten Gottes"10, auf dem der Geist Gottes bleibt. Jes 42,1ff aber, die Stelle, aus der die johanneische Bezeichnung Jesu als "Auserwählter Gottes" stammt, wird vom Tg messianisch verstanden: "Siehe, mein Knecht, der Messias..." Joh bezieht Jes 42,1ff auch noch in 9,5f und 8,12 auf Jesus. Jes 11,1ff und Jes 42,1ff sind nicht nur in Joh 1,33 miteinander verbunden, sondern auch in Joh 8,16 und 8,12. Auch die johanneische Rede Jesu vom Frieden in 14,27 mag auf Jes 11,1ff zurückgehen.

Ez 34,13.23 / Ez 37,21-24

S.H. Levey schreibt in seinem Buch über die messianische Exegese des Tg11 :"From the standpoint of Messianic exegesis, the Targum to Ezechiel presents a major problem. Not once is the Messiah designated as such, even where the Hebrew text presents ample opportunity for Messianic interpretation and designation. The preceding passages (gemeint sind Ez 17,22-24; 34,20-31 und 37,21-28) are a clear case in point." Dagegen zählt P. Humbert12 Ez 34,23 und 37,24f zu den wahrscheinlichen messianischen Abschnitten des Tg. Er tut das mit Recht so, denn das Tg ändert an beiden Stellen "Fürst" in "König" um.

Vom Johev werden Ez 34,13.23 und Ez 37,21f.24 in 10,16 und 11,51 benutzt. Es sind dies die einzigen Anspielungen auf Ez im Johev13. Diese Benutzung zeigt wohl, dass in juden-christlichen Kreisen Ez 34 und 37 messianisch verstanden wurden, auch wenn im Tg zu Ez Zurückhaltung im Hinblick auf die Benutzung des Messiastitels sichtbar wird.

Ps 118,25f

Joh hat diesen Ausruf des Volkes aus der Tradition. Das Tg spricht in Ps 118,21ff nicht vom Messias, ändert aber den MT14.

Jeremia

Jer 23,1ff; 30,8ff; 33,12ff, vom Tg messianisch interpretiert, spielen im Johev keinerlei Rolle. Joh versteht Jesus nicht als einen Abkommen Davids15.

2 Sam 7,11ff

Nach Humbert16 gehört 2 Sam 7,19 zu den vom Tg wahrscheinlich messianisch verstandenen Stellen. Bei Joh taucht der messianisch verstandene Text 2 Sam 7,12f nur in der kritischen Anfrage von Juden auf (Joh 7,42; 12,34).

Mi 5,1-3

Die vom Tg Mi 5,1-3 messianisch verstandene Aussage findet sich bei Joh wiederum nur in der kritischen Aussage des Volkes (Joh 7,42).

Sach 9,9

Diese Stelle gehört nach Humbert zu den vom Tg wahrscheinlich messianisch verstandenen Stellen. Joh hat diese Stelle aus der Tradition.

Zusammenfassung

Im Johev finden sich wesentliche Parallelen zum messianischen Verständnis des Tg. Tg Gen 49,8-12; Jes 11,1ff; 28,16; 42,1ff; 52,13-53,12 und Ps 45 werden vom Evangelisten selbst wie vom Tg auf den Messias bezogen. Andere Stellen jedoch, die vom Tg eindeutig oder wahrscheinlich auf den Messias bezogen  werden, finden sich im Johev nur in Vorstellungen des Volkes, d.h. Joh unterscheidet zwischen zu Recht und zu Unrecht messianisch verstandenen Aussagen des AT.

2. MEMRA im Tg und der Messias vor seiner Inkarnation

"Memra is a blind alley in the study of the biblical background of John's logos doctrine" - so lautet Barrett's Urteil17. Für Etheridge dagegen muss die Rede des Tg von der Memra Gottes als Hintergrund für die johanneische Rede vom Logos betrachtet werden18.

Ich möchte einen neuen Zugang zu der Problematik versuchen und dabei von einigen Beobachtungen zu Justins Dialog ausgehen. In D 114,3 zitiert Justin: "Ich werde sehen die Himmel, die Werke deiner Hände." Dazu sagt er: "Wenn ich die Worte...nicht auf die Werke des Logos Gottes beziehe, dann werde ich sie töricht auffassen gleich euren Lehrern, welche glauben, der Vater des Weltalls, der unerzeugte Gott, habe Hände, Füße, Finger und eine Seele wie ein Lebewesen, das zusammengesetzt ist, und welche deshalb auch lehren, der Vater selbst sei dem Abraham und Jakob erschienen." In D 127,4 sagt Justin dann weiter: "Also weder Abraham noch Isaak, noch Jakob, noch sonst jemand sah den Vater und unnennbaren Herrn aller überhaupt und auch Christi. Sie sahen vielmehr den, der durch den Willen des Vaters diente...den, der einst Feuer war, als er vom Dornstrauch aus mit Moses sprach19." Justin verschweigt, dass nicht alle Juden die zitierten Schriftworte "töricht" aufgefasst haben, sondern dass an entscheidender Stelle im Judentum eine Auslegung ihren Niederschlag gefunden hatte, von der auch Justin bei seiner Erklärung des Schriftwortes abhängig war: Das Targum hatte vor ihm ähnlich gelehrt, als es vom Wirken der Memra Gottes sprach. Wie bei Justin Gottes Mittler verschiedene Namen hat, - nicht nur Logos, sondern z.B. auch "Engel", "Gott" und "Sohn", so haben auch die Mittler des Tg verschiedene Namen, z.B. "Weisheit" (Tg Gen 1), "Schechina" (Tg Lev 26). Auch das Tg würde Justins Worten zustimmen: "Also weder Abraham, noch Isaak, noch Jakob, noch sonst jemand sah den Vater...". Z.B. hatte nach dem Tg Abraham Glauben an die Memra (Tg Gen 15). Sie soll den Bund mit Abraham schließen (Tg Gen 17). Im Wort geht Gott mit nach Ägypten und führt durch das Wort wieder heraus (Tg Gen 46). Das Wort Gottes sprach mit Mose (Tg Ex 33), der dann den Namen des Wortes anrief (Tg Ex 34). Wer die eherne Schlange ansah und sein Herz auf den Namen Gottes hin gerichtet hatte, der blieb am Leben (Tg Num 21). Nach Tg Neof. 13,21 war es das Wort, das als Wolken- oder Feuersäule voranging und Licht in der Nacht gab. Und nach Tg Neof. 33,14 war es die Herrlichkeit der Schechina Gottes, die einen Ruheplatz bereiten sollte.

Das ist also der Nährboden, auf dem Justins Lehre von der Wirkungsgeschichte des Logos-Sohn-Engel-Gott gewachsen ist, die Lehre von der Wirkungsgeschichte des Logos von der Schöpfung der Welt bis zur Inkarnation. Diese Wirkungsgeschichte des Logos, angeregt durch targumisches Denken, das z.T. schließlich seinen Niederschlag in den Targumen fand, zeigt sich auch im Johannesevangelium. Schwerpunkte dieser Wirkungsgeschichte sind die Schöpfungszeit, die Zeit Abrahams und Jakobs, die Zeit des Exodus und die Zeit des Jesaja.

Der Logos und die Schöpfung

In meinen Studien20habe ich einige wahrscheinliche Anspielungen auf die Weisheit in Joh 1 und eine Reihe von formalen Parallelen aufgezeigt. Diese Sprache der Weisheit in Joh 1 zeigt die Nähe zur Aussage des Tg Gen 1, dass Gott durch die Weisheit geschaffen hat. Joh ersetzt "Weisheit" durch den Hauptbegriff des Tg für die dem Menschen zugewandte Seite Gottes, durch Memra/Logos. Wenn der inkarnierte Logos Jesus spricht und sich auf alttestamentliches Memra/Logos-Geschehen bezieht, wird Logos bei Joh immer durch EGO ersetzt.

Der Logos: Die Zeit Abrahams und Jakobs

Das Wort Jesu in Joh 8,58 weist auf die Begegnung des Abraham mit dem Logos hin: Wenn der Logos immer schon ist, kann Abraham ihn auch gesehen haben21. Auf Tg Gen 15,6 und 17,7 habe ich schon hingewiesen. Tg Gen 18 wird darüber nachgedacht, welche Aufgabe jeder der drei Engel hatte, die Abraham besucht haben. Einer war dazu da, dass er Abraham bekannt gab, dass Sara einen Sohn gebären sollte. Als die Engel von Abraham wieder weggingen, gingen zwei nach Sodom, der aber, der die Geburt angekündigt hatte, "stieg zum Himmel hinauf". Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass der Evangelist Johannes in diesem Engel den seit der Schöpfung wirkenden Logos gesehen hat. Als der Logos Abraham die Geburt seines Sohnes ankündigte, von dem Könige über viele Völker ausgehen sollten - also doch wohl auch der König schlechthin, der Messias - freute er sich darüber.

Eine Parallele zur Auslegung des Tg von Gen 18 findet sich bei Justin D 56,1: Gott war es, der bei der Eiche von Mamre dem Abraham erschien in Begleitung der beiden Engel, die mit ihm zum Strafgericht Sodoms ausgeschickt wurden von dem anderen Gotte, welcher stets über den Himmeln bleibt, welcher nie jemandem erschien und nie in eigener Person mit jemandem verkehrte, in welchem wir den Weltschöpfer und Vater erkennen. Justin identifiziert den Engel, der dem Abraham die Geburt des Sohnes ankündigte, mit Jesus: Jesus erschien dem Abraham bei der Eiche von Mamre. Natürlich hat Abraham Jesus gesehen - was die Gesprächspartner Jesu in Joh 8,57 infrage stellen. Johannes wird Gen 17,22 also ähnlich verstanden haben wie Tg und Justin: Der Logos Jesus stieg zum Himmel hinauf. Joh 3,12f kann von dieser Vorstellung her verstanden werden. Der Logos, der war, ehe Abraham ward, begegnete Abraham und stieg wieder in den Himmel hinauf.

Die jüdisch-christlichen Streitigkeiten über das Verständnis Jesu als "Engel" oder als "Gott", wie sie im Hebräerbrief geschildert werden und auch hinter dem Johev zu stehen scheinen22, scheinen in den Spekulationen über den einen der drei Engel, der nicht nach Sodom geht, sondern zum Himmel hinauf steigt, ihren Ausgangspunkt zu haben.

Dass auch Jakob Jesus sah, sagt Justin D 127,4. Er sagt auch, dass der Logos durch Jakob Gen 49,8-12 erklärte: D 52,4. Tg Gen 46 wird Jakob eine wichtige Wirksamkeit der Memra angekündigt: "I am He who in My Word will go down with thee into Mizraim; I will regard the affliction of thy children, and My Word shall bring thee up from thence...". Tg Gen 49,8-12 spricht Jakob vom König Messias.

Die Anschauung, dass es der Logos war, der die Kinder Israels aus Ägypten herausgeführt hat, scheint auch hinter Aussagen des Johev zu stehen. Hinter der Aussage in Joh 1,51 steht eine targumartige Auslegung des Johannes, die aber im Tg keinen Niederschlag gefunden hat: Was Jakob in seinem Traum gesehen hat, war ein Geschehen mit dem Menschensohn. Gott ist mit dem Menschensohn ständig durch Engel verbunden. Diese Sicht, die Jakob gehabt hat, wird durch Jesus in Joh 1,51 denen verheißen, die vor ihm stehen23.

Im Hinblick zu Aussagen des Tg über Abraham und Jakob wird die Anschauung des Johev, dass Jesus von den Vätern gesehen worden ist, verständlich. Auch die Anschauung Justins in D 127,4, dass die Väter Jesus sahen und nicht den Vater, konnte an das Tg und verwandte Auslegungen anknüpfen.

Der Logos: Die Zeit des Exodus

Ich habe auf Tg Gen 46 hingewiesen, dass die Memra die Aufgabe hat, die Kinder Israels aus Ägypten herauszuführen. Von der Durchführung dieser Aufgabe durch die Memra sprechen die Targumim: Die Memra hilft (Tg Ex 3,12), führt das Volk (Tg Ex 13 und 17), spricht mit Mose und wird von ihm angerufen (Tg Ex 33 und 34), leitet als Wolke und Feuersäule (Tg Neof. 13,21), erlöst und befreit (Tg Neof. 14,30), macht zum heiligen Volk (Tg Lev 26), erhält von Schlangen Gebissene am Leben (Tg Num 21), so dass Tg Dtn 7 sagen kann: "...the Word of the Lord brought us out of Mizraim with a mighty hand; and the Word of the Lord wrought  signs...".

Das Johev erinnert immer wieder an die Zeit des Exodus: an die Führung durch Wolken- und Feuersäule (8,12), an die Speisung durch Manna (Joh 6), an die Tränkung durch Wasser aus dem Felsen (Joh 7), an die Errettung von lebens-bedrohenden Schlangenbissen (Joh 3,14f), an Sinaitheophanie und Gesetzgebung (Joh 1), an durch Zeichen bewirkten Glauben.

An einer Stelle wird sehr deutlich, warum Johannes an das Exodusgeschehen erinnert: bei der Auslegung von Ex 16,4.1524. Jesu Gesprächspartner verstehen diesen Text so: Mose hat den Vätern Brot aus dem Himmel zu essen gegeben. Jesus korrigiert auf Grund des MT: Nicht Mose gab, sondern Gott gibt. Nicht Mose gab ihnen, sondern Gott gibt euch. Nicht Brot gab Mose, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot aus dem Himmel. Ich bin das Brot des Lebens. D.h.: Gott gibt in Jesus seit der Exoduszeit wahres Brot. Er gibt in Jesus seit der Exoduszeit Licht und Wasser des Lebens25, erhält am Leben, die, die glauben, wirkt Zeichen, spricht wie am Sinai durch Jesus und gibt durch ihn das neue Gesetz. Johannes zeigt also eine Wirkungsgeschichte des Logos auf, die in der Exoduszeit begann und sich im inkarnierten Logos fortsetzt. Für diese Anschauung konnte der Evangelist an Aussagen des Tg über das Wirken der Memra in der Exoduszeit anknüpfen und sie weiterführen. Wenn es Joh 5,46 heißt: "Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben", so meint der Evangelist damit nicht nur, dass Mose von dem Messias der Zukunft geschrieben hat, sondern auch, dass Mose während der Exoduszeit seine Erfahrungen mit dem noch nicht Fleisch gewordenen Logos gehabt hat und diese niedergeschrieben hat.

Der Logos: Die Zeit des Jesaja

Dass Johannes für seine Aussage in 12,41 an das Tg anknüpfen konnte, ist wiederholt gesehen worden. Nach dem Tg sah Jesaja nicht Gott selbst, sondern nur seine Herrlichkeit, bzw. die Herrlichkeit der Schechina des Königs der Welten26. Hinter der joh Aussage steht die Anschauung, dass Jesaja den Logos gesehen hat. Das zu Joh 5,46 Gesagte gilt genauso für Jesaja: Wie Mose, so hat Jesaja seine Erfahrungen mit dem Logos gehabt und davon geschrieben27.

3. Einzelprobleme zu Tg und Johev

Die Teufel-/Kain-Vaterschaft in Joh 8 und das Tg

In einem noch unveröffentlichten Artikel28 schließe ich mich Dahls Hinweis29 an, dass in Joh 8 vom Teufel und von Kain als Vater von jüdischen Gesprächspartnern Jesu die Rede ist, die Jesus steinigen wollen. Dahl weist u.a. auf das Tg als Hintergrund für die joh Anschauung. Ich kann seine These mit der Untersuchung des Hapaxlegomenon bei Joh ‚epithymia’ in 8,44 auf dem Hintergrund von Tg Neof. Gen 4,7 und 6,5 bestätigen: Nur von Kain - nicht vom Teufel - berichtet das Tg, dass er die Herrschaft über die böse Begierde hat und eine doppelte Möglichkeit durch diese Herrschaft: Gerechtigkeit oder Sünde. Da die Gesprächspartner Jesu in Joh 8 ihn am Ende steinigen wollen, wie es Kain mit seinem Bruder gemacht hat, als er die böse Begierde nicht beherrscht hat, erweisen sie sich als Kinder dieses Vaters und Kinder des Teufels.

Jesus der Weinstock

Das Tg bezieht Ps 80,16 auf den Messias. Er ist der von Gott gepflanzte Weinstock. Vielleicht hat Joh die Anschauung von Jesus als dem Weinstock über die Tradition aus dem Tg30.

Sach 12,10

Tg Sach 12,10 vl wird der Messias genannt. Joh 19,37 stammt wahrscheinlich aus der Tradition31.

Blut und Wasser aus der Seite Jesu

Tg Num 20 heißt es: "And Mosheh lifted up his hand, and with his rod struck the rock two times: at the first time it dropped blood; but at the second time there came forth a multitude of waters". Da Jesus im Johev als wasserspendender Fels gesehen wird, ist Tg Num 20 als Verständnishilfe für Joh 19,37 nicht auszuschließen.

Mi 2,12f

Tg Mi 2,12f schildert den kriegführenden König der letzten Zeit, den Messias: Hirt und Herde brechen durch das Tor. Ich möchte diese Tg-Stelle als Hintergrund für die joh Rede von Hirt und Herde in Joh 10 nicht ausschließen.

Wiederaufrichtung des Tempels

Nach Tg Jes 53,5 wird der Messias den Tempel wieder erbauen. Jesus spricht davon in Joh 2,19.

Wehen der Geburt

Humbert32 hält es für sehr wahrscheinlich, dass Tg Jes 66,7 mit dem "König" den Messias meint. In den joh Abschiedsreden erinnert manches an Jes 66,7ff: Joh 16,21f; 14,16-18.

Bereitung der Ruhestätte

Nach Tg Neof. Ex 33,14 begleitet die "Glory of my Shekinah" die Ausziehenden und wird ihnen eine Ruhestätte bereiten. Joh 14,2f geht Jesus von den Jüngern weg, um ihnen die Stätte zu bereiten.

Die Welt würde die Bücher nicht fassen

Tg Jes 53,8 heißt es: "...and the wondrous things that shall be wrought for us in his days who shall be able to recount?" Diese Aussage erinnert an den Schluss des Johev: 21,25.

Schisma

Tg Neof. Ex 17,6f liest man: "Behold, my Word shall stand in readiness on the rock at Horeb and you shall strike the rock and water shall come out from it, and the people shall drink...And he called the name of the place His Temptation and His Contentions because the children of Israel had contended and tempted before the Lord saying: Does the Glory of the Shekinah of the Lord truly dwell among us or not." Auch im Johev entsteht im Anschluss an Jesu Selbstdarstellung als wasserspendender Fels in Joh 7,37 die Frage, ob Jesus der Christus ist oder nicht.

Ego Eimi

Tg Jes 43,10ff lautet: "Ye are witnesses before me, saith the Lord, and my servant, the Anointed One (or, Messiah), in whom I am well pleased; that ye may know and believe before me, and understand that I am He: I am He that is from the beginning, yea the everlasting ages are mine, and beside me there is no saviour. I declared to Abraham your father what was about to come; I delivered you from Egypt, as I sware to him between the pieces: I caused you to hear the instruction of my law from Sinai...".

In diesen letzten Aussagen wiederholt das Tg die Aufgaben der Memra aus der Väter- und Exoduszeit, Aufgaben, die nach Joh auch der Logos erfüllt hat. Der Messias ist der "Ego Eimi"33.

Das Paschalamm

Im Rahmen der Anordnungen über das Paschalamm spricht Tg Ex 12 über die vier heilsgeschichtlich bedeutsamen Nächte: Schöpfung, Abraham, Auszug und Erlösung durch den Messias. Alle vier Themen sind im Johev mit Jesus verbunden. Die Abschiedsreden beginnen nach der Feststellung: Und es war Nacht. An Ex 12 erinnert dann, dass Jesus im Johev als Lamm Gottes verstanden wird, sein Todestag mit dem Schlachttag der Lämmer übereinstimmt, der Ysop erwähnt wird und die Vorschrift "ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen". Mit dem Verrat, zu dem Judas aufbrach, hat die Nacht der Erlösung durch den Messias begonnen, eine Nacht, die sich über mehrere Nächte hinziehen wird und unter der Überschrift steht: "Nun ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm."

4. Auswertung des Targumhintergrundes

Die Abhängigkeit des Evangelisten Johannes von Anschauungen der Targumim ist überaus groß selbst dann, wenn einige der aufgezeigten Parallelen nicht eindeutig oder fraglich sind34. Ich möchte die Bedeutung dieser Abhängigkeit für unser Verständnis des Johev in ein paar Punkten zusammenfassen:

a) Das johanneische Verständnis des AT

Der Evangelist Johannes sieht im AT vornehmlich zum einen eine Wirkungsgeschichte des Logos, die im inkarnierten Logos zu ihrem Höhepunkt kommt. Durch das Sprechen von Memra und Schechina und andere Auslegungen haben die Targumim der Theologie des Johannes den Weg bereitet. Zum anderen sieht Johannes im AT die Ankündigung des Messias, weitgehend wieder im Anschluss an die Targumim. Der Logos wird unter Rückgriff auf Tg Jes 43,10ff zum "Ego Eimi". Die Erhöhungs- und Verherrlichungschristologie des Johannes basiert auf den Hoheitsaussagen über den Messias in Tg Jes 52,13-53,12.

b) Adressaten des Evangeliums

Weil die Bezugnahme auf die Targumim so grundlegend für das Verständnis des Johev ist, werden die Adressaten in erster Linie unter den Juden zu sehen sein. Das gilt auch noch für die Zeit nach dem Synagogenausschluss. Darüber hinaus sind Samaritaner angesprochen, Heiden dagegen weniger.

c) Johanneisches Vokabular

Weitgehend vom Tg-Hintergrund her müssen folgende joh Wörter gesehen werden: Logos, Licht, von der Wahrheit zeugen (Tg Ps 45), glauben (Jes 28), zelten, Herrlichkeit, Gnade und Wahrheit, der Auserwählte (Tg Jes 43), Messias, erhöhen, verherrlichen, anbeten, (Brot, Wasser), Schisma, das Vokabular im Zusammenhang mit der Teufels-/Kains-sohnschaft, bzw. Gotteskindschaft, Schiloah, (Hirt, Schafe), sammeln, ein neues Gesetz geben, (Weinstock). Das ist zwar keine vollzählige Liste, aber sie gibt einen Eindruck von der starken Beeinflussung johanneischer Sprache durch die Targumim.

d) Dualismus

Die dualistische Redeweise im Johev wird auf dem Hintergrund der Kain-Spekulationen des Tg verständlich.

e) Jesus ist Gott

Weil das Tg Ps 45 messianisch verstand, konnte sich die joh Lehre, dass Jesus Gott ist, entwickeln - natürlich auf dem Untergrund der Memra = Logos-Lehre des Tg.

Schlussbemerkung

Wie Kommentare und Artikel zeigen35, gibt es eine Reihe von Überlegungen zum Tg-Hintergrund des Johev. Wenn auch die Diskussion über das Alter der Targumim nicht zum Abschluss gekommen ist36, so zeigen doch die vielen joh Parallelen, dass zumindest exegetische Traditionen, die sich in den Targumim niedergeschlagen haben, zur Abfassungszeit des Johev existiert haben. Die Datierungsfrage hat kein großes Gewicht im Hinblick auf die weitere Erforschung des Tg-Hintergrundes für das Johev.

Erstaunlich ist, dass sich dieser Tg-Hintergrund bei Joh kaum in Abschnitten aus der Tradition zeigt, sondern fast ein joh Specificum ist. Was mag für den Juden Johannes mit dieser starken Bindung an die Exegese der Targumim mit ihren großen Hoffnungen der Synagogenauschluss alles bedeutet haben! Dieser Ausschluss führte schließlich zu der distanzierten Benutzung der Bezeichnung "die Juden" durch einen Juden, der ein neues Selbstverständnis gewonnen hatte als "Kind Gottes", aber der Tradition immer verhaftet und nahe blieb.

1S. Strack-Bill.Bd.3, 2. Aufl. 1954, S. 679f

3Joh 19,36f; 18,11.

4 Joh 18,6.

5Joh 20,28.

7 S. G. Reim, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Cambridge 1974, 173-76.

8Vgl. z.B. M. Mc Namara, The Ascension and Exaltation of Christ in the Fourth Gospel: Scripture 19 (1967) 65-73.

9 Studien 56ff.

10Zur Begründung dieser Lesart s. Studien 163, Anm. 101. Vgl. zu Jes 11,1-3 auch Justin D 86,4 und 87,2f

11S. H. Levey, The Messiah. An Aramaic Interpretation, Cincinnati 1974.

12 P. Humbert, Le Messie dans le Targum des prophètes: R ThPh 43 (1910) 420-47 und 44 (1911) 5-46.

13S. Studien 183-186.

14V.21: "redemptor", V.22: "puerum despexerunt aedificatores".

15Vgl. Tg Hos 3,3-5, Tg Mi 5,1-3.

16Op.cit.20ff.

17C.K. Barrett, The Gospel according to St. John (London1955) 128.

18J.W. Etheridge, The Targums of Onkelos and Jonathan Ben Uzziel on the Pentateuch with the Fragments of the JerusalemTargum, New York1968, 2. Aufl. Bd. 2,17 Vgl. Bd. 1,14ff.19f.

19Vgl. D 60,2; 75,4.

20Studien 193f.

21Ich lese heoraken se

22S. Anm. 21 und vgl. Joh 1,51; 10,31 und 20,28, sowie 1,18 ("der eingeborene Gott")

23Studien 101f.

24Studien 12-15.

25Vgl. zum "Wasser aus dem Felsen" Tg Jes 9,6; Jes 55,11; Ex 17,6.

26Tg Jes 6,1; 6,5.

27 Vom Anstoßnehmen an Memra bzw. Logos sprechen sowohl Tg Jes 8,14 als auch Joh 6,60f. Zu Tg Jes vgl. weiter das zu Jes 52,13-53,12; 28,16; 11,1ff und 42,1ff Gesagte.

29N.A. Dahl, Der Erstgeborene Satans und der Vater des Teufels (Polyk. 7,1 und Joh 8,44), in: Apophoreta (Festschr. f. E. Haenchen) Berlin 1964, 70-84.

30Vgl. aber die Bedenken in: Studien 160 Anm. 96.

31S. Studien 54f.

32S. Anm. 12.

33S. Studien 167f.

34Nicht eindeutig oder fraglich sind für mich die Tg-Parallelen zu Joh 15,1ff; 19,37; 10,1ff; 16,21f; 14,16-18; 14,2f; 7,37ff.

35Immer wieder sind in den letzten zwanzig Jahren Artikel erschienen, die sich mit dem Tg-Hintergrund zum Johev befasst haben. Als Zusammenfassung ist zu nennen: M. Mc Namara, Targum and Testament, Shannon 1972, mit einem Abschnitt über das Johev. Folgende Schwerpunkte haben sich in der Forschung ergeben: Memra/Logos, Joh 3,13f, der Jakob-Hintergrund in 1,51; Kap.4 und Kap.9; Joh 7,38; Joh 8,44ff; 12,41. An Artikeln sind u.a. zu nennen: D. Macho, El logos y el Espiritu Santo: Atlantida 1 (1963), P.Borgen, Observations on the Targumic Character of the Prologue of St. John: NTS 16 (1969) 288-295 (vgl. dazu H. Thyen in ThR 1975, 247f); P. Borgen, Some Jewish Exegetical Traditions as Background for Son of Man Sayings in John's Gospel (Jn 3,13-14 and context) in: "L’Évangile de Jean. Sources rédaction, théologie", ed. M. de Jonge, Leuven 1977; J. Ramón Díaz, Palestinian Targum and the New Testament NT 6 (1963) 76f; M.-É. Boismard, Les citations targumiques dans le 4. évangile: RB 1959, 374ff; N. A. Dahl: s. Anm. 29; G. Vermes, "He is the Bread": Targum Neofiti Exodus 16:15, in: Studies in Judaism in Late Antiquity 8, Leiden 1975 (dgg. G.H. Cowling in AJBA 1976); K. Müller, Joh 9,7 und das jüdische Verständnis des Siloh-Spruches: BZ NF 13 (1969) 251-256; M.-É. Boismard, "De son ventre couleront des fleuves d’eau": RB 1958, 523ff; B. Mc Neil, The Quotation at John XII 34, NT 19 (1977) 22ff

B. Lindars diskutiert in der Einleitung seines Kommentars den Tg-Einfluss auf das Johev nicht. L. Morris nimmt für die Logos-Anschauung des Johannes das Tg als Hintergrund an (S.119f). In E. Haenchens Kommentar wird der Tg-Hintergrund nicht erwähnt. R.E. Brown (s. Index Targum) räumt die Möglichkeit eines Tg-Hintergrundes für Joh 3,14; 4,6.12; 7,38 und 12,41 ein und bemerkt: "The implications for the background of the Gospel are obvious."

36S. z.B. J. Bowker, The Targums and Rabbinic Literature, London1969, und die Rezension Schäfers in ThLZ 1971 Sp.99-102. (Schäfer: "TPsJ enthält zwar manche eindeutig späte Traditionen; dies besagt aber weder etwas über das Alter der anderen Traditionen noch über das Alter des TPsJ überhaupt im Vergleich zu den anderen Targumim."; A.D. York, The Dating of Targumic Literatures; JSJ 1974, 49-62.