Rezension Joh. Kommentar: M. Theobald

Rezension von M. Theobald: Das Evangelium nach Johannes

Erschienen in: Korrespondenzblatt. Herausgegeben vom Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern Nr.11 Nov. 2011
 

Wie die Pilze? - Ein neuer deutscher Kommentar zum Johannesevangelium

Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-12 (903 S.)
Übersetzt und erklärt von
Michael Theobald

Regensburger Neues Testament
Verlag F. Pustet 2009 ISBN 978-3-7917-2062-3 €(D) 54,-

Das mit den Pilzen stimmt nicht ganz. Es sind zwar in den letzten Jahren eine Reihe von Johanneskommentaren in Deutschland erschienen – in der Ära nach Bultmann, Schnackenburg, Blank, Becker, Schulz …: Schenke, 1998¸ Schnelle 1998; Wilckens, 1998; Wengst, 2000.2001; Dietzfelbinger, 2001; Thyen, 2005…; - aber der äußere Eindruck täuscht. Hinter jedem dieser Kommentare steht jahrzehntelange Arbeit. Das erkennt man auch an dem Kommentar von Michael Theobald (geb.1948, Prof. für NT an der Katholisch- theologischen  Fakultät der Universität Tübingen). Allein der erste vorliegende Band mit 903 Seiten weist umfangreiche eigene Studien, Literaturkenntnis und –Verwertung auf, enthält Vorarbeit in Vorlesungen und Seminaren und belegt dann das, was Theobald im sehr wichtigen Vorwort schreibt: „Angesichts der heute herrschenden Tendenzen der Johannesauslegung schwimmt dieser Kommentar bewusst gegen den Strom.“ Das macht die Arbeit für mich so wertvoll und ich möchte sie jedem in Studium, Pfarramt und Forschung sehr empfehlen.
Sehr empfehlen?
Gewinnreicher Erwerb des Buches ist jedoch mit harter Arbeit und vielem Weiterdenken verbunden. Wer für den Gottesdienst eine schnelle Information für seine Predigt braucht, wird bei Theobalds Kommentar seine Mühe haben.
Vorwort – Leseanleitung
Das Buch hat 903 Seiten, ein ausführliches Literaturverzeichnis, Register und enthält 6 Karten. Es ist äußerst klug angelegt und von der Seite des Verlags exzellent betreut und gedruckt. Man muss neben dem knappen und inhaltsreichen Vorwort (2 Seiten) unbedingt zuerst die Leseanleitung S.98 zur Hand nehmen, ehe man sich den Kommentar zu einzelnen Versen und Textabschnitten vornimmt.
Die Leseanleitung
A    „Zu jedem Textabschnitt bietet der Kommentar unter A zunächst Informationen zu literarischen Fragen: Zu Aufbau, Gattung und Genese des Textes, sowie zu historischen Hintergründen.“

B     „Unter B folgt dann eine Vers-für-Vers-Auslegung.“

C    „bietet schließlich in aller Kürze Fragen und Hinweise zur theologischen und spirituellen Relevanz des Textes heute.“

Einleitung (S. 13-98)
Die Hauptüberschriften der Einleitung lauten:
I.     Das Vierte Evangelium – eine >dramatische Erzählung<
II.    Die literarische Genese der >dramatischen Erzählung<
III.   Das Vierte Evangelium und andere Corpora des Neuen Testaments
IV.   Der Autor des Evangeliums
V.   Zeit und Ort der Abfassung des Evangeliums
Zu I - <dramatische Erzählung>:
Th sieht als gestaltendes Prinzip des Evangelisten im Hinblick auf dessen Quellen, Reden… das einer <dramatischen Erzählung>, spricht von Bühne, Ort, Darstellern, vom Tempel als ideale Bühne für Jesus, vom Verschwinden der Jünger, von Szenenfolge, Dialogen, Rampe, das Stück spielt usw.
So, wie Th das Gestaltungsprinzip sieht, kann man es tun, muss es aber nicht. Gute Auswirkung hat seine Sicht jedoch auf die Darstellung des Evangelientextes mit Einrückungen. Man muss sich das ansehen und freut sich über die Übersichtlichkeit auf einen Blick.

Zu II – literarische Genese:
Die Darstellung der literarischen Genese des Evangeliums stellt einen Rückschritt dar! Aber einen in die richtige Richtung!
Einige neuere Johannes-Exegeten hatten z.B. das Ringen um die Erkenntnis, wie das Evangelium aus Quellen zusammengestellt worden ist, als Schere und Kleister-Methode abgetan, sich gegen die weit über 50 Jahre literarkritischer Operationen am Patienten Johannesevangelium gewandt. Th schwimmt bewusst gegen diesen Strom, spricht von der Flucht der Ausleger in den Endtext und sagt über seine Arbeit:
„So mühselig und hypothetisch dieses Geschäft ist, der Ausleger kann sich von ihm nicht dispensieren, will er die Verankerung des sich nach außen hin sich zeitlos gebenden Buches in der Geschichte nicht ausblenden.“  
Th behandelt mündliche Überlieferungen, darunter <Herrenworte>, die im Kern aus Wundererzählungen bestehende schriftliche Quelle, sowie eine Passions- und Ostererzählung, die dem Evangelisten gleichfalls in schriftlicher Form vorlag. Vieles findet sich schon in der Einleitung, und vieles wird in Exkursen zu den infrage kommenden Texten intensiv besprochen, vieles findet sich unter III. Unter II. 2. wird das Konzept des Evangelisten vorgestellt: Grundzüge, Vorgaben und Ziele. In 2.4 (S. 66) zeigt Th das Ziel des Evangelisten auf: den Aufbau einer eigenen kirchlichen Identität. Sehr lesenswert! Die Darstellung der literarischen Genese kommt unter 3. dann auf die sekundäre Redaktion des Buches zu sprechen, auf Glossen, Nachträge und Einschübe, auf angehängte Textblöcke wie 3,31-36; 6,51ff 10,1-18; 11,51f; 12,44-50; 15,1-16,4c; 16,4d-33; 17; und 21. Th behandelt Textumstellungen und den <Geliebten Jünger>. Abschließend schreibt er: „Bei einer Scheidung zwischen Evangelist und sekundärer Redaktion geht es nicht darum, das Original von verfälschenden Übermalungen zu befreien… Das Evangelium ist ein Gemeindebuch, das wieder und wieder gelesen, bedacht und dann auch fortgeschrieben wurde.“
Zu dieser Betrachtung der Redaktion durch andere außer dem Evangelisten selbst habe ich meine Anfragen und andere Lösungsvorschläge (s.  www.evangelium-johannes.de )
Zu III - Das Vierte Evangelium und andere Corpora des Neuen Testaments
Hier wendet sich Th. gegen das Urteil von Schnelle, der den Evangelisten <zwei Hauptlinien frühchristlicher Theologiebildung> in seinem Werk vereinigen lässt, nämlich die <kerygmatisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte> des Paulus und die <narrative Jesus-Christus-Geschichte> des Markus. Völlig zu Recht entgegnet Th im Anschluss an seine konzentrierte Darstellung von  <Johannes> und Paulus und  <Johannes> und die Synoptiker: „Aber der Evangelist steht nicht auf den Schultern dieser beiden, sondern beansprucht auf der frühchristlichen Landkarte einen eigenen Ort. (S.81) Hier schwimmt Th gegen den Strom. Er hatte geschrieben: „Die Theorie, dass der Vierte Evangelist von den Synoptikern abhängt (nicht nur von ihrer Tradition), erlebt seit einigen Jahren wieder eine erstaunliche Konjunktur.“ Genannt werden Schenke, Wilckens, Schnelle, Lincoln, Neirynck. „Entweder postulieren diese Forscher eine Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern insgesamt oder von zweien oder wenigstens von einem, dann vom Markusevangelium. Eine Extremposition vertritt H. Thyen.“ Seit vielen Jahren habe ich selber diese Position Theobalds – er spricht von Unabhängigkeitstheorie - immer wieder vertreten (ich spreche vom 'Vierten Synoptiker') und bin auch durch die Werke der angeführten Forscher, die Johannes von Markus, oder/und Matthäus oder/und Lukas abhängig sehen, nicht unsicher geworden.

Zu IV - Der Autor des Evangeliums
Hier schreibt Th ausführlich über den Autor des Evangeliums. Wieder gegen den Strom schwimmend, schreibt Th gegen die <ephesinische Johanneslegende> und deren Identifikation des Sehers Johannes mit dem Apostel Johannes. Th sagt, Insiderwissen (S. 89), das wir nicht besitzen, hat Gemeindeglieder ohne literarisch gewollte Anonymität vom Jünger, den Jesus liebte sprechen lassen. Er ist nach Th „Bedeutungsträger in einem doppelten Sinn: Zum einen handelt es sich bei ihm um eine mit exemplarischen und idealen Zügen ausgestattete Erzählfigur, in der sich auch die Leser wiederfinden können, zum anderen ist er unersetzlich und einzigartig, nämlich als authentischer Bürge und Zeuge der Offenbarung.“

Zu V - Zeit und Ort der Abfassung des Evangeliums
Für Th scheidet eine Frühdatierung des Evangeliums vor 70 n. Chr. definitiv aus (S. 93). Auch die Abfassungszeit des <Ketzersegens>, der birkat-ha-minim um 85/90? bietet für Th keinen verlässlichen Anhaltspunkt für die Datierung. Dennoch nimmt er einen Termin um 90 n. Chr., vielleicht auch schon etwas früher an. Die Redaktion hätte dann noch einige Jahre gebraucht.
Ich denke auch an die Datierung für diese Zeit, sehe aber die Bedeutung der birkat und auch die der Redaktion anders: Birkat als Grundlage für das Reden von aposynagogos und Redaktion als Überarbeitung einer Erstform des Evangeliums durch den Evangelisten selbst mit neuem – z.T. sehr alten – Material in gewandelter Situation.
Als Entstehungsort nimmt Th Syrien an – nicht Alexandrien und Ephesus! Ich sehe die Ortsfrage ähnlich und stimme Th zu, wenn er schreibt: “Eine letzte Gewissheit bei der Lokalisierung der johanneischen Gemeinden gibt es nicht.“
Zur Kommentierung (S. 100-844)
Es gibt im Kommentar keine direkten Anmerkungen, sondern – und das erleichtert das Lesen – nur in Klammern gesetzte Hinweise auf Autoren, also z.B. (Thyen, Joh. 64). Schnackenburg, Bultmann, Blank, Becker, Dietzfelbinger – auch andere – werden häufig genannt. Vor der besonders gut gestalteten Übersetzung werden meist einführende Hinweise gebracht, nach ihr folgen dann – wie oben beschrieben – A, B und C. Dazwischen finden sich die ca. 25 Exkurse. Griechische und hebräische Worte – sparsam gebraucht – werden in deutscher Umschrift geboten.
Exkurse
Viele von ihnen befassen sich mit dem Verhältnis der entsprechenden Texte zu den Synoptikern. Es gibt weiter Exkurse zu „Juden“, zu „wie antijüdisch ist Joh 8“, zu Pharisäern, dem Zwölferkreis, Hohem Rat, zur birkat–ha–minim, zu Samarien, Bethesda, Siloam, überaus ausführlich ist der Exkurs zu Dionysos. Weitere Themen: Lamm Gottes, Menschensohn, Mutter Jesu, Ich-bin-Worte,  Eucharistie und …
Da der zweite Kommentarband noch nicht vorliegt, kann man über die Auswahl der Exkurse nicht viel sagen. Vielleicht kommen ja noch Exkurse zu Leben, Glauben, Herrlichkeit, zur Verwendung des AT durch den Evangelisten.
Die Kommentierung
Die Kommentierung selbst ist gekonnt, zuverlässig, umfangreich. Eine Fundgrube, die viel Zeit erfordert. Natürlich ist bei einem solchen Kenner des Prologs wie Th dessen Prolog-Auslegung besonders wertvoll – auch wenn ich über die Genese anders denke, wie ich in einem Entwurf dargestellt habe (Joh 1,1-18 – wie und warum ein jüdisches Logoslied geändert worden ist. Veröffentlicht in: Günter Reim, Das Wort ward Fleisch. Gesammelte Aufsätze zum Johannesevangelium und seinen Wurzeln im Alten Testament. Selbstverlag Erlangen 2010. S.351-381).
Die Kommentierung ist solide wie die des von mir hoch geschätzten R. Schnackenburg. Von besonderer Bedeutung finde ich jedoch oft das, was Th unter C am Ende jeder Einzelauslegung an meditativen Anstößen zum Weiterdenken gibt. Da wird man an Bultmann, Blank und Dietzfelbinger erinnert. Um einen winzigen Einblick in C zu geben, muss ich ein paar Gedanken anführen und z.T. zitieren:
“Wer diesen Transfer, der die Tora nur noch als Zeuge für Christus gelten lässt, als einseitig und gefährlich kritisiert, weil er aufseiten der Synagoge ein heilsgeschichtliches Vakuum hinterlässt, wird unter historischer Rücksicht die Entstehungssituation des Buches zur Kenntnis nehmen müssen, in der es aufseiten der johanneischen Gemeinden um den Aufbau einer eigenen christologisch begründeten Identität ging…“ „gilt es, den anderen Religionen mit offenen Augen und mit weitem Herzen zu begegnen, im festen Vertrauen darauf, dass auch ihnen das Logos-Licht leuchtet.“ (S.142f) „Wenn sich jemand aus voller Überzeugung zu Jesus bekennt und begeistert von ihm spricht, dann ermutigt das andere, die es hören und sich davon anstecken lassen, zu einem eigenverantworteten Glauben;…“ (S.185) „Nicht die Kritik an einem veräußerlichten Tempelbetrieb, auch nicht die prophetische Vision einer eschatologischen Tempelreform, sondern das definitive Ende des Opfer- und Sühnekults ist die Pointe der johanneischen Darstellung der Tempelaktion Jesu. Was sie betreibt, ist eine Fundamentalkritik des Tempels…“ (S. 237) Zu Joh 3,16: „Aber ist Gott wirklich so eindeutig, frei von allem Schatten, fragt der Leser und verweist auf all das Negative in dieser Welt: …“ (S. 278)
Ich würde gern weiterzitieren (z. B. S. 548; 561f; 586; 744-46; 757f; 819; 832f; 842f). Ich möchte nur anregen, selbst zu lesen etwa über antijudaistischen Missbrauch der Geschichte von der Ehebrecherin und kirchliche Rechtsetzung, über Nichtglaubende im Gegenüber zum Tode, über Lazarus und die jüdische Kultur des Tröstens, über den erhöhten Christus, der jeder Zeit gleich nahe ist, über die Verstockungsaussage bei Johannes und über die „letzte Rede Jesu an der Rampe der Bühne“, die die genuine und originäre Heilsabsicht des Gottes Jesu Christi betont.

Mein Gesamteindruck von dem Kommentar Michael Theobalds
Mit seinem Kommentar kann Th sicher Verständnis und Leidenschaft erwecken, wie er sich das in seinem Vorwort wünscht. Ich selber empfinde das Werk für das bedeutendste seit dem Kommentar R. Schnackenburgs – nicht ‚Pilz’ unter Pilzen, sondern eher ‚Perle’, bei der es sich lohnt, sie zu besitzen.

Meine Wünsche
In einer überarbeiteten Ausgabe würde ich mir neben den oben angesprochenen Exkursen besonders die Berücksichtigung und die Würdigung der überaus großen Bedeutung folgender AT-Aussagen wünschen:
LXX Ps 39 (Thema ‚Fleischwerdung’ ‚Ende des Tempelkults’ ‚den Willen Gottes tun’); Ps 45(‚Beurteilung des Nikodemus, der den König beerdigt’ ‚der Messias der Wahrheit – nicht des Schwertes’ ‚Jesus als Gott’); der  Ps 95 (‚Massa und Meriba und Joh 6’ ‚das heute/nun bei Joh und im Hebr’); Jes 6 (im Hinblick auf das johanneische Sprechen vom ‚Gesandten’) und Jes 28,16 (‚das joh glauben’). Dafür müsste unbedingt die Beziehung des Evangelisten zum Targum herangezogen werden, was die Syrien-Entstehung des Evangeliums, von der Th spricht, stärken würde.
Auch die Bedeutung Justins – von Th immer wieder angesprochen – könnte in einem Überblick dargestellt werden.
Beim Blick auf andere Corpora des NT müsste sicher auch der Hebräerbrief berücksichtigt werden.
Diese Wünsche sollen nicht den großartigen Gesamteindruck trüben, den das Werk Theobalds hinterlässt. So, wie J. Frey mit seinen Untersuchungen einen Punkt setzt hinter die Erforschung der Autorschaft der Apokalypse und der immer wieder vermuteten Identität von Evangelist und Apokalyptiker, indem er die Unabhängigkeit aufweist, setzt in meinen Augen M. Theobald einen Punkt hinter dem Problem der vermuteten Abhängigkeit des Evangelisten Johannes von den Synoptikern und erweist die Unabhängigkeit – auch wenn ich weiß, dass es genügend viele Forscher geben wird, die den Punkt nicht akzeptieren werden.
Manches von dem, was einige an dem vorliegenden Band noch vermissen werden, wird wohl im zweiten Band angesprochen werden, auf den ich mich gespannt freue.